2. Die Anschauung
Die Kunst ist erzeugt worden durch das absolute geistige Bedürfnis, daß das Göttliche, die geistige Idee als Gegenstand für das Bewußtsein und zunächst für die unmittelbare Anschauung sei. Gesetz und Inhalt der Kunst ist die Wahrheit, wie sie im Geist erscheint, also geistige Wahrheit ist, aber so zugleich, daß sie eine sinnliche für die unmittelbare Anschauung ist. So ist die Darstellung der Wahrheit von dem Menschen hervorgebracht, aber äußerlich gesetzt, so daß sie von ihm in sinnlicher Weise gesetzt ist. Wie die Idee in der Natur unmittelbar erscheint und auch in geistigen Verhältnissen und in der zerstreuten Mannigfaltigkeit das Wahre da ist, so ist die Idee noch nicht in ein Zentrum der Erscheinungen gesammelt und erscheint noch in der Form des Außereinanderseins. In der unmittelbaren Existenz ist die Erscheinung des Begriffs noch nicht mit der Wahrheit harmonisch gesetzt. Hingegen die sinnliche Anschauung, welche die Kunst hervorbringt, ist notwendig ein vom Geist Produziertes, ist nicht unmittelbare sinnliche Gestaltung und hat die Idee zu ihrem belebenden Zentrum.
In demjenigen, was wir zum Umfang der Kunst rechnen, kann auch anderes enthalten sein als dasjenige, was wir soeben angaben. Die Wahrheit hat da einen doppelten Sinn; erstlich den der Richtigkeit, daß die Darstellung mit dem sonst bekannten Gegenstand übereinstimmt. In diesem Sinne ist die Kunst formell und die Nachahmung gegebener Gegenstände, der Inhalt mag sein, welcher er will. Da ist ihr Gesetz nicht die Schönheit. Aber auch insofern diese das Gesetz ist, kann die Kunst noch als Form genommen werden und sonst einen beschränkten Inhalt haben, so wie die wahrhafte Wahrheit selbst. Diese aber in ihrem wahrhaften Sinne ist Zusammenstimmung des Gegenstandes mit seinem Begriff, die Idee; und diese als die freie durch keine Zufälligkeit oder Willkür verkümmerte Äußerung des Begriffs ist der an und für sich seiende Inhalt der Kunst, und zwar ein Inhalt, der die substantiellen, allgemeinen Elemente, Wesenheiten und Mächte der Natur und des Geistes betrifft.
Der Künstler hat die Wahrheit nun so darzustellen, daß die Realität, worin der Begriff seine Macht und Herrschaft hat, zugleich ein Sinnliches ist. Die Idee ist so in sinnlicher Gestalt und in einer Individualisierung, für welche die Zufälligkeiten des Sinnlichen nicht entbehrt werden können. Das Kunstwerk ist im Geist des Künstlers empfangen, und in diesem ist an sich die Vereinigung des Begriffs und der Realität geschehen; hat aber der Künstler seine Gedanken in die Äußerlichkeit entlassen und ist das Werk vollendet, so tritt er von demselben zurück.
So ist das Kunstwerk als für die Anschauung gesetzt zunächst ein ganz gemein äußerlicher Gegenstand, der sich nicht selbst empfindet und sich nicht selbst weiß. Die Form, die Subjektivität, die der Künstler seinem Werke gegeben hat, ist nur äußerliche, nicht die absolute Form des sich Wissenden, des Selbstbewußtseins. Die vollendete Subjektivität fehlt dem Kunstwerke. Dieses Selbstbewußtsein fällt in das subjektive Bewußtsein, in das anschauende Subjekt. Gegen das Kunstwerk, das nicht in sich selbst das Wissende ist, ist daher das Moment des Selbstbewußtseins das Andere, aber ein Moment, das schlechthin zu ihm gehört und welches das Dargestellte weiß und als die substantielle Wahrheit vorstellt. Das Kunstwerk als sich selbst nicht wissend ist in sich unvollendet und bedarf, weil zur Idee Selbstbewußtsein gehört, der Ergänzung, die es durch die Beziehung des Selbstbewußten zu ihm erhält. In dieses Bewußtsein fällt ferner der Prozeß, wodurch das Kunstwerk aufhört, nur Gegenstand zu sein, und das Selbstbewußtsein dasjenige, das ihm als ein Anderes erscheint, mit sich identisch setzt. Es ist dies der Prozeß, der die Äußerlichkeit, in welcher im Kunstwerk die Wahrheit erscheint, aufhebt, diese toten Verhältnisse der Unmittelbarkeit tilgt und bewirkt, daß das anschauende Subjekt sich das bewußte Gefühl, im Gegenstand sein Wesen zu haben, gibt. Da diese Bestimmung des Insichgehens aus der Äußerlichkeit in das Subjekt fällt, so ist zwischen diesem und dem Kunstwerke eine Trennung vorhanden; das Subjekt kann das Werk ganz äußerlich betrachten, kann es zerschlagen oder vorwitzige, ästhetische und gelehrte Bemerkungen darüber machen, - aber jener für die Anschauung wesentliche Prozeß, jene notwendige Ergänzung des Kunstwerks hebt diese prosaische Trennung wieder auf.
In der morgenländischen Substantialität des Bewußtseins ist noch nicht zu dieser Trennung fortgegangen und ist daher auch nicht die Kunstanschauung vollendet, denn diese setzt die höhere Freiheit des Selbstbewußtseins voraus, das sich seine Wahrheit und Substantialität frei gegenüberstellen kann. Bruce *) zeigte in Abessinien einem Türken einen gemalten Fisch, dieser sagte aber: "Der Fisch wird dich am jüngsten Tage verklagen, daß du ihm keine Seele gabst." Nicht nur die Gestalt will der Orientale, sondern auch die Seele; er verbleibt in der Einheit und geht nicht zur Trennung und zu dem Prozeß fort, in welchem die Wahrheit als körperlich ohne Seele auf der einen Seite steht und auf der andern das anschauende Selbstbewußtsein, das diese Trennung wieder aufhebt.
Sehen wir nun zurück auf den Fortschritt, den in der bisherigen Entwicklung das religiöse Verhältnis gemacht hat, und vergleichen wir die Anschauung mit dem Gefühl, so ist zwar die Wahrheit in ihrer Objektivität hervorgetreten, aber der Mangel ihrer Erscheinung ist der, daß sie in der sinnlichen, unmittelbaren Selbständigkeit sich hält, d. h. in derjenigen, die sich selbst wieder aufhebt, nicht an und für sich seiend ist und sich ebenso als vom Subjekt produziert erweist, als sie die Subjektivität und das Selbstbewußtsein erst in dem anschauenden Subjekt gewinnt. In der Anschauung ist die Totalität des religiösen Verhältnisses, der Gegenstand und das Selbstbewußtsein auseinandergefallen. Der religiöse Prozeß fällt eigentlich nur in das anschauende Subjekt und ist in diesem doch nicht vollständig, sondern bedarf des sinnlichen, angeschauten Gegenstandes. Andererseits ist der Gegenstand die Wahrheit und bedarf doch, um wahrhaft zu sein, des außer ihm fallenden Selbstbewußtseins.
Der Fortschritt, der nun notwendig ist, ist der, daß die Totalität des religiösen Verhältnisses wirklich als solche und als Einheit gesetzt wird. Die Wahrheit gewinnt die Objektivität, in der ihr Inhalt als an und für sich seiend nicht ein nur Gesetztes, aber wesentlich in der Form der Subjektivität selbst ist und der gesamte Prozeß im Element des Selbstbewußtseins geschieht. So ist das religiöse Verhältnis zunächst die Vorstellung.
*) James Bruce, Travels to Discover the Sources of the Nile in the Years 1768-73, 5 Bde., 1790
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