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G.W.F. HEGEL

Vorlesungen über die Philosophie der Religion

Einleitung

Ich habe es für nötig erachtet, die Religion für sich zum Gegenstand der philosophischen Betrachtung zu machen und diese Betrachtung als einen besonderen Teil zu dem Ganzen der Philosophie hinzuzufügen. Zum Behuf der Einleitung werde ich aber zuvor
A. die Entzweiung des Bewußtseins darstellen, welche das Bedürfnis erweckt, das unsere Wissenschaft zu befriedigen hat, und die Beziehung unserer Wissenschaft zur Philosophie und Religion sowie zu den Zeitprinzipien des religiösen Bewußtseins schildern. Nachdem ich sodann
B. einige Vorfragen berührt habe, die sich aus jenen Beziehungen unserer Wissenschaft ergeben, werde ich
C. die Einteilung derselben geben.

Zuerst ist im allgemeinen daran zu erinnern, welchen Gegenstand wir in der Religionsphilosophie vor uns haben und welches unsere Vorstellung von der Religion ist. Wir wissen, daß wir uns in der Religion der Zeitlichkeit entrücken und daß sie diejenige Region für unser Bewußtsein ist, in welcher alle Rätsel der Welt gelöst, alle Widersprüche des tiefer sinnenden Gedankens enthüllt sind, alle Schmerzen des Gefühls verstummen, die Region der ewigen Wahrheit, der ewigen Ruhe, des ewigen Friedens. Wodurch der Mensch Mensch ist, ist der Gedanke überhaupt, der konkrete Gedanke, näher dies, daß er Geist ist; von ihm als Geist gehen dann die vielfachen Gebilde der Wissenschaften, Künste, Interessen seines politischen Lebens, Verhältnisse, die sich auf seine Freiheit, auf seinen Willen beziehen, aus. Aber all diese mannigfachen Gebilde und weiteren Verschlingungen der menschlichen Verhältnisse, Tätigkeiten, Genüsse, alles, was Wert und Achtung für den Menschen hat, worin er sein Glück, seinen Ruhm, seinen Stolz sucht, findet seinen letzten Mittelpunkt in der Religion, in dem Gedanken, Bewußtsein, Gefühl Gottes. Gott ist daher der Anfang von allem und das Ende von allem; wie alles aus diesem Punkte hervorgeht, so geht auch alles in ihn zurück; und ebenso ist er die Mitte, die alles belebt, begeistet und alle jene Gestaltungen in ihrer Existenz, sie erhaltend, beseelt. In der Religion setzt sich der Mensch in Verhältnis zu dieser Mitte, in welche alle seine sonstigen Verhältnisse zusammengehen, und er erhebt sich damit auf die höchste Stufe des Bewußtseins und in die Region, die frei von der Beziehung auf anderes, das schlechthin Genügende, das Unbedingte, Freie und Endzweck für sich selber ist.

Die Religion als die Beschäftigung mit diesem letzten Endzweck ist darum schlechthin frei und ist Zweck für sich, denn in diesen Endzweck laufen alle anderen Zwecke zurück, und vor ihm verschwinden sie, bis dahin für sich geltend. Gegen ihn hält kein anderer aus, und allein in ihm finden sie ihre Erledigung. In der Region, wo sich der Geist mit diesem Zweck beschäftigt, entlädt er sich aller Endlichkeit und gewinnt er die letzte Befriedigung und Befreiung; denn hier verhält sich der Geist nicht mehr zu etwas anderem und Beschränktem, sondern zum Unbeschränkten und Unendlichen, und das ist ein unendliches Verhältnis, ein Verhältnis der Freiheit und nicht mehr der Abhängigkeit; da ist sein Bewußtsein absolut freies und selbst wahrhaftes Bewußtsein, weil es Bewußtsein der absoluten Wahrheit ist. Als Empfindung bestimmt, ist dies Verhältnis der Freiheit der Genuß, den wir Seligkeit nennen; als Tätigkeit tut es nichts anderes, als die Ehre Gottes zu manifestieren und seine Herrlichkeit zu offenbaren, und dem Menschen ist es in diesem Verhältnis nicht mehr um sich selbst zu tun, um sein Interesse, seine Eitelkeit, sondern um den absoluten Zweck. Alle Völker wissen, daß das religiöse Bewußtsein das ist, worin sie Wahrheit besitzen, und sie haben die Religion immer als ihre Würde und als den Sonntag ihres Lebens angesehen. Was uns Zweifel und Angst erweckt, aller Kummer, alle Sorge, alle beschränkten Interessen der Endlichkeit lassen wir zurück auf der Sandbank der Zeitlichkeit; und wie wir auf der höchsten Spitze eines Gebirges, von allem bestimmten Anblick des Irdischen entfernt, mit Ruhe alle Beschränkungen der Landschaft und der Welt übersehen, so ist es mit dem geistigen Auge, daß der Mensch, enthoben der Härte dieser Wirklichkeit, sie nur als einen Schein betrachtet, der in dieser reinen Region nur im Strahl der geistigen Sonne seine Schattierungen, Unterschiede und Lichter, zur ewigen Ruhe gemildert, abspiegelt. In dieser Region des Geistes strömen die Fluten der Vergessenheit, aus denen Psyche trinkt, worin sie allen Schmerz versenkt, und die Dunkelheiten dieses Lebens werden hier zu einem Traumbild gemildert und zum bloßen Umriß für den Lichtglanz des Ewigen verklärt.

Dies Bild des Absoluten kann der religiösen Andacht mehr oder weniger gegenwärtige Lebendigkeit, Gewißheit, Genuß darbieten oder als ein Ersehntes, Gehofftes, Entferntes, Jenseitiges dargestellt werden, immer bleibt es doch Gewißheit und strahlt es als ein Göttliches in die zeitliche Gegenwart und gibt es das Bewußtsein von der Wirksamkeit der Wahrheit auch neben dem Angstvollen, das hier in dieser Region der Zeitlichkeit die Seele noch quält.
Der Glaube erkennt es als die Wahrheit, als die Substanz der vorhandenen Existenzen, und dieser Inhalt der Andacht ist das Beseelende der gegenwärtigen Welt, macht sich wirksam in dem Leben des Individuums und regiert es in seinem Wollen und Lassen. Das ist die allgemeine Anschauung, Empfindung, Bewußtsein, oder wie wir es nennen wollen, der Religion. Ihre Natur zu betrachten, zu untersuchen und zu erkennen ist es, was die Absicht dieser Vorlesungen ist.

Zunächst müssen wir aber über unseren Zweck das bestimmte Bewußtsein haben, daß es der Philosophie nicht darum zu tun ist, die Religion in einem Subjekt hervorzubringen; sie wird vielmehr als Grundlage in jedem vorausgesetzt. Es soll der Substanz nach nichts Neues in den Menschen gebracht werden; dies wäre ebenso verkehrt, als wenn man in einen Hund Geist hineinbringen wollte dadurch, daß man ihn gedruckte Schriften kauen ließe. Wer seine Brust nicht aus dem Treiben des Endlichen heraus ausgeweitet, in der Sehnsucht, Ahnung oder im Gefühl des Ewigen die Erhebung seiner selbst nicht vollbracht und in den reinen Äther der Seele geschaut hat, der besäße nicht den Stoff, der hier begriffen werden soll.

Es kann der Fall sein, daß die Religion durch die philosophische Erkenntnis im Gemüte erweckt wird; aber es ist nicht notwendig und es ist nicht die Absicht der Philosophie zu erbauen, sowenig sie sich dadurch zu bewähren hat, daß sie in diesem oder jenem Subjekte die Religion hervorbringen müsse. Denn die Philosophie hat wohl die Notwendigkeit der Religion an und für sich zu entwickeln und zu begreifen, daß der Geist von den anderen Weisen seines Wollens, Vorstellens und Fühlens zu dieser absoluten Weise fortgehen muß; aber so vollbringt sie das allgemeine Schicksal des Geistes, - ein anderes ist es, das individuelle Subjekt zu dieser Höhe zu erheben. Die Willkür, Verkehrtheit, Schlaffheit der Individuen kann in die Notwendigkeit der allgemeinen geistigen Natur eingreifen, von ihr abweichen und versuchen, sich einen eigentümlichen Standpunkt zu geben und sich auf demselben festzuhalten. Diese Möglichkeit, sich in Trägheit auf dem Standpunkt der Unwahrheit gehenzulassen oder mit Wissen und Wollen auf demselben zu verweilen, liegt in der Freiheit des Subjekts, während Planeten, Pflanzen, Tiere von der Notwendigkeit ihrer Natur, von ihrer Wahrheit nicht abweichen können und werden, was sie sein sollen. Aber in der menschlichen Freiheit ist Sein und Sollen getrennt, sie trägt die Willkür in sich, und sie kann sich von ihrer Notwendigkeit, von ihrem Gesetze absondern und ihrer Bestimmung entgegenarbeiten. Wenn also die Erkenntnis wohl die Notwendigkeit des religiösen Standpunktes einsähe, wenn der Wille an der Wirklichkeit die Nichtigkeit seiner Absonderung erführe, so hindert das alles nicht, daß er nicht auf seinem Eigensinn beharren und sich von seiner Notwendigkeit und Wahrheit entfernt halten könnte. 

Nach gewöhnlicher, seichter Manier hat man es als Argument gegen die Erkenntnis gebraucht, daß man sagt, dieser und jener besitze Erkenntnis von Gott und bleibe doch fern von der Religion, sei nicht fromm geworden. Die Erkenntnis will und soll aber auch nicht dazu führen, sondern soll die Religion, die da ist, erkennen, nicht aber diesen und jenen, dieses einzelne, empirische Subjekt erst zur Religion bewegen, wenn es nichts von Religion in sich hat oder haben wollte.

Aber in der Tat ist kein Mensch so verdorben, so verloren und so schlecht, und wir können niemanden für so elend achten, daß er überhaupt nichts von der Religion in sich hätte, wäre es auch nur, daß er Furcht vor derselben oder Sehnsucht nach ihr oder Haß gegen sie hätte; denn auch in dem letzteren Falle ist er doch innerlich mit ihr beschäftigt und verwickelt. Als Menschen ist ihm die Religion wesentlich und eine ihm nicht fremde Empfindung. Doch kommt es wesentlich auf das Verhältnis der Religion zu seiner übrigen Weltanschauung an, und darauf bezieht sich und wirkt wesentlich die philosophische Erkenntnis. In diesem Verhältnis liegt die Quelle der Entzweiung gegen den ursprünglichen, absoluten Drang des Geistes zur Religion und haben sich überhaupt die mannigfachsten Formen des Bewußtseins und die verschiedenartigsten Beziehungen derselben zu dem Interesse der Religion gebildet. Ehe die Religionsphilosophie sich zu ihrem eigenen Begriffe sammeln kann, muß sie sich durch alle jene Verschlingungen der Zeitinteressen, die sich in dem großen Kreise des religiösen Gebiets gegenwärtig konzentriert haben, hindurcharbeiten. Zunächst steht die Bewegung der Zeitprinzipien noch außerhalb der philosophischen Einsicht; aber sie treibt sich selbst dahin, daß sie mit der Philosophie in Berührung, Kampf und Gegensatz tritt, und diesen Gegensatz und seine Auflösung haben wir zu betrachten, wenn wir den Gegensatz, wie er noch außerhalb der Philosophie sich hält, untersucht und zu seiner Vollendung wo er die philosophische Erkenntnis in sich hineinzieht, sich entwickeln gesehen haben. 

 

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G.W.F. HEGEL

Vorlesungen über die Philosophie der Religion

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G.W.F. Hegel

Religion  >>>

A. Das Verhältnis der Religionsphilosophie zu ihren Voraussetzungen
     und zu den Zeitprinzipien

I. Die Entzweiung der Religion mit dem freien weltlichen Bewusstsein

II. Die Stellung der Religionsphilosophie zur Philosophie und zur Religion

1. Verhältnis der Philosophie zur Religion überhaupt

2. Verhältnis der Religionsphilosophie zum System der Philosophie

3. Verhältnis der Religionsphilosophie zur positiven Religion

Das Verhältnis der Philosophie der Religion zu den Zeitprinzipien des religiösen Bewußtseins

Die Philosophie und die gegenwärtige Gleichgültigkeit der bestimmten Dogmen

Die historische Behandlung der Dogmen

Die Philosophie und das unmittelbare Wissen

Vernunfterkenntnis der Religion

Tun des Geistes

 Begriff der Religion

 

Philosophie-Religion

“So fällt Religion und Philosophie in eins zusammen; die Philosophie ist in der Tat selbst Gottesdienst, ist Religion, denn  ...”   >>>

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