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G.W.F.Hegel                                                                                                                hegeleliforp03Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse

 

β. Die Triebe und die Willkür

§ 473

Das praktische Sollen ist reelles Urteil. Die unmittelbare, nur vorgefundene Angemessenheit der seienden Bestimmtheit zum Bedürfnis ist für die Selbstbestimmung des Willens eine Negation und ihr unangemessen. Daß der Wille, d. i. die an sich seiende Einheit der Allgemeinheit und der Bestimmtheit, sich befriedige, d. i. für sich sei, soll die Angemessenheit seiner inneren Bestimmung und des Daseins durch ihn gesetzt sein. Der Wille ist der Form des Inhalts nach zunächst noch natürlicher Wille, unmittelbar identisch mit seiner Bestimmtheit, Trieb und Neigung; insofern die Totalität des praktischen Geistes sich in eine einzelne der mit dem Gegensatze überhaupt gesetzten vielen beschränkten Bestimmungen legt, Leidenschaft.

Zusatz.
Im praktischen Gefühl ist es zufällig, ob die unmittelbare Affektion mit der inneren Bestimmtheit des Willens übereinstimmt oder nicht.
Diese Zufälligkeit, dies Abhängigsein von einer äußeren Objektivität, widerspricht dem sich als
das An-und-für-sich-Bestimmte erkennenden, die Objektivität in seiner Subjektivität enthalten wissenden Willen. Dieser kann deshalb nicht dabei stehenbleiben, seine immanente Bestimmtheit mit einem Äußerlichen zu vergleichen und die Übereinstimmung dieser beiden Seiten nur zu finden, sondern er muß dazu fortschreiten, die Objektivität als ein Moment seiner Selbstbestimmung zu setzen, jene Übereinstimmung, seine Befriedigung, also selber hervorzubringen. Dadurch entwickelt sich die wollende Intelligenz zum Triebe. Dieser ist eine subjektive Willensbestimmung, die sich selber ihre Objektivität gibt.
Der Trieb muß von der bloßen Begierde unterschieden werden. Die letztere gehört, wie wir § 426 gesehen haben, dem Selbstbewußtsein an und steht somit auf dem Standpunkt des noch nicht überwundenen Gegensatzes zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven. Sie ist etwas Einzelnes und sucht nur das Einzelne zu einer einzelnen, augenblicklichen Befriedigung. Der Trieb hingegen, da er eine Form der wollenden Intelligenz ist, geht von dem aufgehobenen Gegensatze des Subjektiven und des Objektiven aus und umfaßt eine Reihe von Befriedigungen, - somit etwas Ganzes, Allgemeines.
Zugleich ist jedoch der Trieb, als von der Einzelheit des praktischen Gefühls herkommend und nur die erste Negation derselben bildend, noch etwas Besonderes. Deshalb erscheint der Mensch, insofern er in die Triebe versunken ist, als unfrei.

§ 474

Die Neigungen und Leidenschaften haben dieselben Bestimmungen zu ihrem Inhalte als die praktischen Gefühle und gleichfalls die vernünftige Natur des Geistes einerseits zu ihrer Grundlage; andererseits aber sind sie, als dem noch subjektiven, einzelnen Willen angehörig, mit Zufälligkeit behaftet und scheinen als besondere zum Individuum wie zueinander sich äußerlich und hiermit nach unfreier Notwendigkeit sich zu verhalten.

Die Leidenschaft enthält in ihrer Bestimmung, daß sie auf eine Besonderheit der Willensbestimmung beschränkt ist, in welche sich die ganze Subjektivität des Individuums versenkt, der Gehalt jener Bestimmung mag sonst sein, welcher er will.
Um dieses Formellen willen aber ist die Leidenschaft weder gut noch böse; diese Form drückt nur dies aus, daß ein Subjekt das ganze lebendige Interesse seines Geistes, Talentes, Charakters, Genusses in einen Inhalt gelegt habe. Es ist nichts Großes ohne Leidenschaft vollbracht worden, noch kann es ohne solche vollbracht werden. Es ist nur eine tote, ja zu oft heuchlerische Moralität, welche gegen die Form der Leidenschaft als solche loszieht.
Aber bei den Neigungen wird unmittelbar die Frage gemacht, welche gut und böse, ingleichen bis zu welchem Grade die guten gut bleiben und, da sie besondere gegeneinander und ihrer viele sind, wie sie sich, da sie sich doch in einem Subjekte befinden und sich nach der Erfahrung nicht wohl alle befriedigen lassen, gegeneinander wenigstens einschränken müssen. Es hat mit diesen vielen Trieben und Neigungen zunächst dieselbe Bewandtnis wie mit den Seelenkräften, deren Sammlung der theoretische Geist sein soll - eine Sammlung, welche nun mit der Menge von Trieben vermehrt wird.
Die formelle Vernünftigkeit des Triebes und der Neigung besteht nur in ihrem allgemeinen Triebe, nicht als Subjektives zu sein, sondern durch die Tätigkeit des Subjekts selbst die Subjektivität aufzuheben, realisiert zu werden.
Ihre wahrhafte Vernünftigkeit kann sich nicht in einer Betrachtung der äußeren Reflexion ergeben, welche selbständige Naturbestimmungen und unmittelbare Triebe voraussetzt und damit des einen Prinzips und Endzwecks für dieselbe ermangelt. Es ist aber die immanente Reflexion des Geistes selbst, über ihre Besonderheit wie über ihre natürliche Unmittelbarkeit hinauszugehen und ihrem Inhalte Vernünftigkeit und Objektivität zu geben, worin sie als notwendige Verhältnisse, Rechte und Pflichten sind.
Diese Objektivierung ist es denn, welche ihren Gehalt sowie ihr Verhältnis zueinander, überhaupt ihre Wahrheit aufzeigt; wie Platon, was die Gerechtigkeit an und für sich sei, mit wahrhaftem Sinne, auch insofern er unter dem Rechte des Geistes seine ganze Natur befaßte, nur in der objektiven Gestalt der Gerechtigkeit, nämlich der Konstruktion des Staates als des sittlichen Lebens darstellen zu können zeigte.
Welches also die guten, vernünftigen Neigungen und deren Unterordnung sei, verwandelt sich in die Darstellung, welche Verhältnisse der Geist hervorbringt, indem er als objektiver Geist sich entwickelt; - eine Entwicklung, in welcher der Inhalt der Selbstbestimmung die Zufälligkeit oder Willkür verliert.
Die Abhandlung der Triebe, Neigungen und Leidenschaften nach ihrem wahrhaften Gehalte ist daher wesentlich die Lehre von den rechtlichen, moralischen und sittlichen Pflichten.

§ 475

Das Subjekt ist die Tätigkeit der Befriedigung der Triebe, der formellen Vernünftigkeit, nämlich der Übersetzung aus der Subjektivität des Inhalts, der insofern Zweck ist, in die Objektivität, in welcher es sich mit sich selbst zusammenschließt. Daß, insofern der Inhalt des Triebes als Sache von dieser seiner Tätigkeit unterschieden wird, die Sache, welche zustande gekommen ist, das Moment der subjektiven Einzelheit und deren Tätigkeit enthält, ist das Interesse. Es kommt daher nichts ohne Interesse zustande.

Eine Handlung ist ein Zweck des Subjekts, und ebenso ist sie seine Tätigkeit, welche diesen Zweck ausführt; nur durch dies, daß das Subjekt auf diese Weise in der uneigennützigsten Handlung ist,
d. h. durch sein Interesse, ist ein Handeln überhaupt.
- Den Trieben und Leidenschaften setzt man einerseits die schale Träumerei eines Naturglücks gegenüber, durch welches die Bedürfnisse ohne die Tätigkeit des Subjekts, die Angemessenheit der unmittelbaren Existenz und seiner inneren Bestimmungen hervorzubringen, ihre Befriedigung finden sollen. Andererseits wird ihnen ganz überhaupt die Pflicht um der Pflicht willen, die Moralität entgegengesetzt.
Aber Trieb und Leidenschaft ist nichts anderes als die Lebendigkeit des Subjekts, nach welcher es selbst in seinem Zwecke und dessen Ausführung ist. Das Sittliche betrifft den Inhalt, der als solcher das Allgemeine, ein Untätiges, ist und an dem Subjekte sein Betätigendes hat; dies, daß er diesem immanent ist, ist das Interesse und, die ganze wirksame Subjektivität in Anspruch nehmend, die Leidenschaft.

Zusatz.
Selbst im reinsten rechtlichen, sittlichen und religiösen Willen, der nur seinen Begriff, die Freiheit, zu seinem Inhalte hat, liegt zugleich die Vereinzelung zu einem Diesen, zu einem Natürlichen.
Dies Moment der Einzelheit muß in der Ausführung auch der objektivsten Zwecke seine Befriedigung erhalten, ich als dieses Individuum will und soll in der Ausführung des Zwecks nicht zugrunde gehen.
Dies ist mein Interesse. Dasselbe darf mit der Selbstsucht nicht verwechselt werden. denn diese zieht ihren besonderen Inhalt dem objektiven Inhalte vor. 

§ 476

Der Wille als denkend und an sich frei unterscheidet sich selbst von der Besonderheit der Triebe und stellt sich als einfache Subjektivität des Denkens über deren mannigfaltigen Inhalt; so ist er reflektierender Wille.

§ 477

Eine solche Besonderheit des Triebs ist auf diese Weise nicht mehr unmittelbar, sondern erst die seinige, indem er sich mit ihr zusammenschließt und sich dadurch bestimmte Einzelheit und Wirklichkeit gibt.
Er ist auf dem Standpunkt, zwischen Neigungen zu wählen, und ist Willkür.

§ 478

Der Wille ist als Willkür für sich frei, indem er als die Negativität seines nur unmittelbaren Selbstbestimmens in sich reflektiert ist. Jedoch insofern der Inhalt, in welchem sich diese seine formelle Allgemeinheit zur Wirklichkeit beschließt, noch kein anderer als der der Triebe und Neigungen ist, ist er nur als subjektiver und zufälliger Wille wirklich.
Als der Widerspruch, sich in einer Besonderheit zu verwirklichen, welche zugleich für ihn eine Nichtigkeit ist, und eine Befriedigung in ihr zu haben, aus der er zugleich heraus ist, ist er zunächst der Prozeß der Zerstreuung und des Aufhebens einer Neigung oder Genusses durch eine andere und der Befriedigung, die dies ebensosehr nicht ist, durch eine andere ins Unendliche. Aber die Wahrheit der besonderen Befriedigungen ist die allgemeine, die der denkende Wille als Glückseligkeit sich zum Zwecke macht.

 

 

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