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G.W.F.Hegel                                                                              hegeleliforp03
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse

 

c. Fürsichsein

§ 96

α) Das Fürsichsein als Beziehung auf sich selbst ist Unmittelbarkeit, und als Beziehung des Negativen auf sich selbst ist es Fürsichseiendes, das Eins, - das in sich selbst Unterschiedslose, damit das Andere aus sich Ausschließende.

Zusatz.
Das Fürsichsein ist die vollendete Qualität und enthält als solche das Sein und das Dasein als seine ideellen Momente in sich. Als Sein ist das Fürsichsein einfache Beziehung auf sich, und als Dasein ist dasselbe bestimmt; diese Bestimmtheit ist dann aber nicht mehr die endliche Bestimmtheit des Etwas in seinem Unterschied vom Anderen, sondern die unendliche, den Unterschied in sich als aufgehoben enthaltende Bestimmtheit.
Das nächste Beispiel des Fürsichseins haben wir am Ich. Wir wissen uns als daseiend zunächst unterschieden von anderem Daseienden und auf dasselbe bezogen. Weiter wissen wir dann aber auch diese Breite des Daseins als zugespitzt gleichsam zur einfachen Form des Fürsichseins.
Indem wir sagen: Ich, so ist dies der Ausdruck der unendlichen und zugleich negativen Beziehung auf sich. Man kann sagen, daß der Mensch sich vom Tier und somit von der Natur überhaupt dadurch unterscheidet, daß er sich als Ich weiß, womit dann zugleich ausgesprochen ist, daß die natürlichen Dinge es nicht zum freien Fürsichsein bringen, sondern als auf das Dasein beschränkt immer nur Sein-für-Anderes sind. - Weiter ist nun das Fürsichsein überhaupt als Idealität aufzufassen, wohingegen das Dasein früher als Realität bezeichnet wurde. Realität und Idealität werden häufig als ein Paar mit gleicher Selbständigkeit einander gegenüberstehende Bestimmungen betrachtet, und man sagt demgemäß, daß es außer der Realität auch eine Idealität gebe. Nun aber ist die Idealität nicht etwas, das es außer und neben der Realität gibt, sondern der Begriff der Idealität besteht ausdrücklich darin, die Wahrheit der Realität zu sein, d. h. die Realität als das gesetzt, was sie an sich ist, erweist sich selbst als Idealität.
Man darf somit nicht glauben, der Idealität die nötige Ehre erwiesen zu haben, wenn man nur einräumt, daß es mit der Realität noch nicht abgetan sei, sondern daß man außer derselben auch noch eine Idealität anzuerkennen habe.
Eine solche Idealität, neben oder immerhin auch über der Realität, wäre in der Tat nur ein leerer Name. Einen Inhalt aber hat die Idealität nur, indem dieselbe Idealität von etwas ist: dieses Etwas aber ist dann nicht bloß ein unbestimmtes Dieses oder Jenes, sondern das als Realität bestimmte Dasein, welchem, für sich festgehalten, keine Wahrheit zukommt. Man hat nicht mit Unrecht den Unterschied der Natur und des Geistes so aufgefaßt, daß jene auf die Realität und dieser auf die Idealität als ihre Grundbestimmung zurückzuführen seien. Nun aber ist die Natur eben nicht ein Festes und Fertiges für sich, welches somit auch ohne den Geist bestehen könnte, sondern dieselbe gelangt erst im Geist zu ihrem Ziel und ihrer Wahrheit, und ebenso ist der Geist an seinem Teil nicht bloß ein abstraktes Jenseits der Natur, sondern derselbe ist wahrhaft und bewährt nur erst als Geist, insofern er die Natur als aufgehoben in sich enthält.
Es ist hierbei an die gedoppelte Bedeutung unseres deutschen Ausdrucks aufheben zu erinnern. Unter aufheben verstehen wir einmal soviel als hinwegräumen, negieren, und sagen demgemäß z. B., ein Gesetz, eine Einrichtung usw. seien aufgehoben. Weiter heißt dann aber auch aufheben soviel als aufbewahren, und wir sprechen in diesem Sinn davon, daß etwas wohl aufgehoben sei.
Dieser sprachgebräuchliche Doppelsinn, wonach dasselbe Wort eine negative und eine positive Bedeutung hat, darf nicht als zufällig angesehen noch etwa gar der Sprache zum Vorwurf gemacht werden, als zu Verwirrung Veranlassung gebend, sondern es ist darin der über das bloß verständige Entweder-Oder hinausschreitende spekulative Geist unserer Sprache zu erkennen.

§ 97

β) Die Beziehung des Negativen auf sich ist negative Beziehung, also Unterscheidung des Eins von sich selbst, die Repulsion des Eins, d. i. Setzen vieler Eins. Nach der Unmittelbarkeit des Fürsichseienden sind diese Viele Seiende, und die Repulsion der seienden Eins wird insofern ihre Repulsion gegeneinander als Vorhandener oder gegenseitiges Ausschließen.

Zusatz.
Wenn vom Eins die Rede ist, so pflegen uns dabei zunächst die Vielen einzufallen.
Hier entsteht dann die Frage, wo die Vielen herkommen.
In der Vorstellung findet sich für diese Frage keine Antwort, da dieselbe die Vielen als unmittelbar vorhanden betrachtet und das Eins eben nur als Eines unter den Vielen gilt. Dem Begriffe nach bildet dagegen das Eins die Voraussetzung der Vielen, und es liegt in dem Gedanken des Eins, sich selbst als das Viele zu setzen. Das für sich seiende Eins als solches ist nämlich nicht ein Beziehungsloses wie das Sein, sondern es ist Beziehung so gut wie das Dasein; nun aber bezieht es sich nicht als Etwas auf ein Anderes, sondern als Einheit des Etwas und des Anderen ist es Beziehung auf sich selbst, und zwar ist diese Beziehung negative Beziehung. Hiermit erweist sich das Eins als das schlechthin mit sich selbst Unverträgliche, als das sich von selbst Abstoßende, und dasjenige, als was es sich setzt, ist das Viele.
Wir können diese Seite im Prozeß des Fürsichseins mit dem bildlichen Ausdruck Repulsion bezeichnen. Von der Repulsion spricht man zunächst bei Betrachtung der Materie und versteht darunter eben dies, daß die Materie als ein Vieles in einem jeden dieser vielen Eins sich als ausschließend gegen alle übrigen verhält. Man darf übrigens den Prozeß der Repulsion nicht so auffassen, als sei Eins das Repellierende und die Vielen das Repellierte; vielmehr ist das Eins, wie vorher bemerkt wurde, eben nur dies, sich von sich selbst auszuschließen und als das Viele zu setzen; ein jedes der Vielen aber ist selbst Eins, und indem es sich als solches verhält, so schlägt hiermit diese allseitige Repulsion um in ihr Entgegengesetztes - die Attraktion.

§ 98

γ) Die Vielen sind aber das eine was das andere ist, jedes ist Eins oder auch Eins der Vielen; sie sind daher eins und dasselbe. Oder die Repulsion an ihr selbst betrachtet, so ist sie als negatives Verhalten der vielen Eins gegeneinander ebenso wesentlich ihre Beziehung aufeinander; und da diejenigen, auf welche sich das Eins in seinem Repellieren bezieht, Eins sind, so bezieht es sich in ihnen auf sich selbst.
Die Repulsion ist daher ebenso wesentlich Attraktion; und das ausschließende Eins oder das Fürsichsein hebt sich auf. Die qualitative Bestimmtheit, welche im Eins ihr An-und-für-sich-Bestimmtsein erreicht hat,
ist hiermit in die Bestimmtheit als aufgehobene übergegangen, d. i. in das Sein als Quantität.

Die atomistische Philosophie ist dieser Standpunkt, auf welchem sich das Absolute als Fürsichsein, als Eins, und als viele Eins bestimmt. Als ihre Grundkraft ist auch die am Begriffe des Eins sich zeigende Repulsion angenommen worden; nicht aber so die Attraktion, sondern der Zufall, d. i. das Gedankenlose, soll sie zusammenbringen. Indem das Eins als Eins fixiert ist, so ist das Zusammenkommen desselben mit anderen allerdings als etwas ganz äußerliches anzusehen.
- Das Leere, welches als das andere Prinzip zu dem Atomen angenommen wird, ist die Repulsion selbst, vorgestellt als das seiende Nichts zwischen den Atomen.
- Die neuere Atomistik - und die Physik behält noch immer dies Prinzip bei - hat insofern die Atome aufgegeben, als sie sich an kleine Teilchen, Moleküle, hält; sie hat sich damit dem sinnlichen Vorstellen nähergebracht, aber die denkende Bestimmung verlassen.
- Indem ferner der Repulsivkraft eine Attraktivkraft an die Seite gesetzt wird, so ist der Gegensatz zwar vollständig gemacht, und man hat sich viel mit der Entdeckung dieser sogenannten Naturkraft gewußt. Aber die Beziehung beider aufeinander, was das Konkrete und Wahrhafte derselben ausmacht, wäre aus der trüben Verwirrung zu reißen, in der sie auch noch in Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft gelassen ist. - Noch wichtiger als im Physischen ist in neueren Zeiten die atomistische Ansicht im Politischen geworden. Nach derselben ist der Wille der Einzelnen als solcher das Prinzip des Staates; das Attrahierende ist die Partikularität der Bedürfnisse, Neigungen, und das Allgemeine, der Staat selbst, ist das äußerliche Verhältnis des Vertrags.

Zusatz 1.
Die atomistische Philosophie bildet eine wesentliche Stufe in der geschichtlichen Entwicklung der Idee, und das Prinzip dieser Philosophie ist überhaupt das Fürsichsein in der Gestalt des Vielen.
Wenn noch heutzutage die Atomistik bei solchen Naturforschern, die von Metaphysik nichts wissen wollen, in großer Gunst steht, so ist hier daran zu erinnern, daß man der Metaphysik und näher der Zurückführung der Natur auf Gedanken dadurch nicht entgeht, daß man sich der Atomistik in die Arme wirft, da das Atom in der Tat selbst ein Gedanke und somit die Auffassung der Materie als aus Atomen bestehend eine metaphysische Auffassung ist. Newton hat zwar die Physik ausdrücklich gewarnt, sich vor der Metaphysik zu hüten; zu seiner Ehre muß indes bemerkt werden, daß er selbst sich dieser Warnung keineswegs gemäß verhalten hat. Reine, pure Physiker sind in der Tat nur die Tiere, da diese nicht denken, wohingegen der Mensch, als ein denkendes Wesen, ein geborener Metaphysiker ist.
Dabei kommt es dann nur darauf an, ob die Metaphysik, welche man zur Anwendung bringt, von der rechten Art ist, und namentlich, ob es nicht, anstatt der konkreten, logischen Idee, einseitige, vom Verstand fixierte Gedankenbestimmungen sind, an welche man sich hält und welche die Grundlage unseres theoretischen sowohl als unseres praktischen Tuns bilden.
Dieser Vorwurf ist es, welcher die atomistische Philosophie trifft. Die alten Atomistiker betrachteten
(wie dies noch heutzutage häufig der Fall ist) alles als ein Vieles, und der Zufall sollte es dann sein, welcher die im Leeren herumschwebenden Atome zusammenbringt. Nun aber ist die Beziehung der Vielen aufeinander keineswegs eine bloß zufällige, sondern diese Beziehung ist (wie vorher bemerkt wurde) in ihnen selbst begründet. Kant ist es, welchem das Verdienst gebührt, die Auffassung der Materie dadurch vervollständigt zu haben, daß er dieselbe als die Einheit von Rcpulsion und Attraktion betrachtet.
Hierin liegt das Richtige, daß die Attraktion allerdings als das andere im Begriff des Fürsichseins enthaltene Moment anzuerkennen ist und daß somit die Attraktion ebenso wesentlich zur Materie gehört als die Repulsion. Diese sogenannte dynamische Konstruktion der Materie leidet dann aber an dem Mangel, daß die Repulsion und die Attraktion ohne weiteres als vorhanden postuliert und nicht deduziert werden, aus welcher Deduktion sich dann auch das Wie und Warum ihrer bloß behaupteten Einheit ergeben haben würde. Wenn übrigens Kant ausdrücklich eingeschärft hat, daß man die Materie nicht als für sich vorhanden und dann (gleichsam beiläufig) mit den beiden hier erwähnten Kräften ausgestattet, sondern dieselbe als lediglich in deren Einheit bestehend zu betrachten habe, und die deutschen Physiker sich eine Zeitlang diese reine Dynamik haben gefallen lassen, so hat es die Mehrzahl dieser Physiker in der neueren Zeit wieder bequemer gefunden, auf den atomistischen Standpunkt zurückzukehren und, gegen die Warnung ihres Kollegen, des seligen Kästner*) , die Materie als aus unendlich kleinen Dingerchen, Atome genannt, bestehend zu betrachten, welche Atome dann durch das Spiel der an ihnen haftenden Attraktiv-, Repulsiv- oder auch sonstigen beliebigen Kräfte miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen. Dies ist dann gleichfalls eine Metaphysik, vor welcher, um ihrer Gedankenlosigkeit willen, sich zu hüten allerdings hinlänglicher Grund vorhanden wäre.

Zusatz 2.
Der im vorstehenden § angegebene Übergang der Qualität in die Quantität findet sich nicht in unserem gewöhnlichen Bewußtsein. Diesem gelten die Qualität und die Quantität als ein Paar selbständig nebeneinander bestehende Bestimmungen, und es heißt demgemäß, die Dinge seien nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ bestimmt. Wo diese Bestimmungen herkommen und wie sich dieselben zueinander verhalten, danach wird hier weiter nicht gefragt. Nun aber ist die Quantität nichts anderes als die aufgehobene Qualität, und die hier betrachtete Dialektik der Qualität ist es, wodurch diese Aufhebung zustande kommt. Wir hatten zunächst das Sein, und als dessen Wahrheit ergab sich das Werden; dieses bildete den Übergang zum Dasein, als dessen Wahrheit wir die Veränderung erkannten.
Die Veränderung aber zeigte sich in ihrem Resultate als das der Beziehung auf Anderes und dem Übergang in dasselbe entnommene Fürsichsein, welches Fürsichsein dann endlich in den beiden Seiten seines Prozesses, der Repulsion und der Attraktion, sich als das Aufheben seiner selbst und somit der Qualität überhaupt, in der Totalität ihrer Momente, erwiesen hat.
Diese aufgehobene Qualität ist nun aber weder ein abstraktes Nichts noch das ebenso abstrakte und bestimmungslose Sein, sondern nur das gegen die Bestimmtheit gleichgültige Sein, und diese Gestalt des Seins ist es, welche auch in unserer gewöhnlichen Vorstellung als Quantität vorkommt. Wir betrachten demgemäß die Dinge zunächst unter dem Gesichtspunkt ihrer Qualität, und diese gilt uns als die mit dem Sein des Dinges identische Bestimmtheit. Schreiten wir dann weiter zur Betrachtung der Quantität, so gewährt uns diese sofort die Vorstellung der gleichgültigen, äußerlichen Bestimmtheit, dergestalt, daß ein Ding, obschon seine Quantität sich ändert und es größer oder kleiner wird, dennoch bleibt, was es ist.

*) Abraham Gotthelf Kästner, 1719-1800, Mathematiker und Philosoph

 

 

 

G.W.F. Hegel

Die Wissenschaft der Logik
Erster Teil. Die objektive Logik
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