γ. Der Verstand
§ 422
Die nächste Wahrheit des Wahrnehmens ist, daß der Gegenstand vielmehr Erscheinung und seine Reflexion-in-sich ein dagegen für sich seiendes Inneres und Allgemeines ist. Das Bewußtsein dieses Gegenstandes ist der Verstand. - Jenes Innere ist einerseits die aufgehobene Mannigfaltigkeit des Sinnlichen und auf diese Weise die abstrakte Identität, andererseits enthält es jedoch deswegen die Mannigfaltigkeit auch, aber als inneren einfachen Unterschied, welcher in dem Wechsel der Erscheinungen mit sich identisch bleibt. Dieser einfache Unterschied ist das Reich der Gesetze der Erscheinung, ihr ruhiges allgemeines Abbild.
Zusatz. Der im vorigen Paragraphen bezeichnete Widerspruch erhält seine erste Auflösung dadurch, daß die gegeneinander und gegen die innere Einheit jedes einzelnen Dinges selbständigen mannigfaltigen Bestimmungen des Sinnlichen zur Erscheinung eines für sich seienden Inneren herabgesetzt werden und der Gegenstand somit aus dem Widerspruch seiner Reflexion-in-sich und seiner Reflexion-in-Anderes zum wesentlichen Verhältnis seiner zu sich selber fortentwickelt wird. Indem sich aber das Bewußtsein von der Beobachtung der unmittelbaren Einzelheit und von der Vermischung des Einzelnen und des Allgemeinen zur Auffassung des Innern des Gegenstandes erhebt, den Gegenstand also auf eine dem Ich gleiche Weise bestimmt, so wird dieses zum verständigen Bewußtsein. Erst an jenem unsinnlichen Innern glaubt der Verstand das Wahrhafte zu haben. Zunächst ist dies Innere jedoch ein abstrakt Identisches, in sich Ununterschiedenes, ein solches Innere haben wir in der Kategorie der Kraft und der Ursache vor uns. Das wahrhafte Innere dagegen muß als konkret, als in sich selber unterschieden bezeichnet werden. So aufgefaßt ist dasselbe dasjenige, was wir Gesetz nennen. D enn das Wesen des Gesetzes, möge dieses sich nun auf die äußere Natur oder auf die sittliche Weltordnung beziehen, besteht in einer untrennbaren Einheit, in einem notwendigen inneren Zusammenhange unterschiedener Bestimmungen. So ist durch das Gesetz mit dem Verbrechen notwendigerweise Strafe verbunden; dem Verbrecher kann diese zwar als etwas ihm Fremdes erscheinen, im Begriff des Verbrechens liegt aber wesentlich dessen Gegenteil, die Strafe. Ebenso muß, was die äußere Natur betrifft, zum Beispiel das Gesetz der Bewegung der Planeten (nach welchem bekanntlich die Quadrate der Umlaufszeiten sich wie die Kuben der Entfernungen verhalten) als eine innere notwendige Einheit unterschiedener Bestimmungen gefaßt werden. Diese Einheit wird allerdings erst von dem spekulativen Denken der Vernunft begriffen, aber schon von dem verständigen Bewußtsein in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen entdeckt. Die Gesetze sind die Bestimmungen des der Welt selber innewohnenden Verstandes; in ihnen findet daher das verständige Bewußtsein seine eigene Natur wieder und wird somit sich selber gegenständlich.
§ 423
Das Gesetz, zunächst das Verhältnis allgemeiner, bleibender Bestimmungen, hat, insofern sein Unterschied der innere ist, seine Notwendigkeit an ihm selbst; die eine der Bestimmungen, als nicht äußerlich von der anderen unterschieden, liegt unmittelbar selbst in der anderen. Der innere Unterschied ist aber auf diese Weise, was er in Wahrheit ist, der Unterschied an ihm selbst oder der Unterschied, der keiner ist. - In dieser Formbestimmung überhaupt ist an sich das Bewußtsein, welches als solches die Selbständigkeit des Subjekts und Objekts gegeneinander enthält, verschwunden; Ich hat als urteilend einen Gegenstand, der nicht von ihm unterschieden ist, - sich selbst; - Selbstbewußtsein.
Zusatz. Was im obenstehenden Paragraphen von dem das Wesen des Gesetzes ausmachenden inneren Unterschiede gesagt worden, daß nämlich dieser Unterschied ein Unterschied sei, der keiner ist, das gilt ebensosehr von dem Unterschiede, welcher in dem sich selber gegenständlichen Ich existiert. Wie das Gesetz ein nicht bloß gegen etwas anderes, sondern in sich selber Unterschiedenes, ein in seinem Unterschiede mit sich Identisches ist, so auch das sich selbst zum Gegenstand habende, von sich selber wissende Ich. Indem daher das Bewußtsein, als Verstand, von den Gesetzen weiß, so verhält dasselbe sich zu einem Gegenstande, in welchem das Ich das Gegenbild seines eigenen Selbstes wiederfindet und somit auf dem Sprunge steht, sich zum Selbstbewußtsein als solchem zu entwickeln. Da aber, wie schon im Zusatz zu § 422 bemerkt wurde, das bloß verständige Bewußtsein noch nicht dahin gelangt, die im Gesetz vorhandene Einheit der unterschiedenen Bestimmungen zu begreifen, d. h. aus der einen dieser Bestimmungen deren entgegengesetzte dialektisch zu entwickeln, so bleibt diese Einheit jenem Bewußtsein noch etwas Totes, folglich mit der Tätigkeit des Ich nicht Übereinstimmendes. Im Lebendigen dagegen schaut das Bewußtsein den Prozeß selber des Setzens und des Aufhebens der unterschiedenen Bestimmungen an, nimmt wahr, daß der Unterschied kein Unterschied, d. h. kein absolut fester Unterschied ist. Denn das Leben ist dasjenige Innere, das nicht ein abstrakt Inneres bleibt, sondern ganz in seine Äußerung eingeht; es ist ein durch die Negation des Unmittelbaren, des Äußerlichen, Vermitteltes, das diese seine Vermittlung selber zur Unmittelbarkeit aufhebt, - eine sinnliche, äußerliche und zugleich schlechthin innerliche Existenz, ein Materielles, in welchem das Außereinander der Teile aufgehoben, das Einzelne zu etwas Ideellem, zum Moment, zum Gliede des Ganzen herabgesetzt erscheint; kurz, das Leben muß als Selbstzweck gefaßt werden, als ein Zweck, der in sich selber sein Mittel hat, als eine Totalität, in welcher jedes Unterschiedene zugleich Zweck und Mittel ist. Am Bewußtsein dieser dialektischen, dieser lebendigen Einheit des Unterschiedenen entzündet sich daher das Selbstbewußtsein, das Bewußtsein von dem sich selber gegenständlichen, also in sich selbst unterschiedenen einfachen Ideellen, das Wissen von der Wahrheit des Natürlichen, vom Ich.
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