β. Das Wahrnehmen
§ 420
Das Bewußtsein, das über die Sinnlichkeit hinausgegangen, will den Gegenstand in seiner Wahrheit nehmen, nicht als bloß unmittelbaren, sondern als vermittelten, in sich reflektierten und allgemeinen. Er ist somit eine Verbindung von sinnlichen und von erweiterten Gedankenbestimmungen konkreter Verhältnisse und Zusammenhänge. Damit ist die Identität des Bewußtseins mit dem Gegenstand nicht mehr die abstrakte der Gewißheit, sondern die bestimmte, ein Wissen.
Die nähere Stufe des Bewußtseins, auf welcher die Kantische Philosophie den Geist auffaßt, ist das Wahrnehmen, welches überhaupt der Standpunkt unseres gewöhnlichen Bewußtseins und mehr oder weniger der Wissenschaften ist. Es wird von sinnlichen Gewißheiten einzelner Apperzeptionen oder Beobachtungen ausgegangen, die dadurch zur Wahrheit erhoben werden sollen, daß sie in ihrer Beziehung betrachtet, über sie reflektiert, überhaupt daß sie nach bestimmten Kategorien zugleich zu etwas Notwendigem und Allgemeinem, zu Erfahrungen werden.
Zusatz. Obgleich das Wahrnehmen von der Beobachtung des sinnlichen Stoffes ausgeht, so bleibt dasselbe doch nicht bei dieser stehen, so beschränkt es sich doch nicht auf das Riechen, Schmecken, Sehen, Hören und Fühlen, sondern schreitet notwendig dazu fort, das Sinnliche auf ein nicht unmittelbar zu beobachtendes Allgemeines zu beziehen, jedes Vereinzelte als ein in sich selber Zusammenhängendes zu erkennen - zum Beispiel in der Kraft alle Äußerungen derselben zusammenzufassen - und die zwischen den einzelnen Dingen stattfindenden Beziehungen und Vermittlungen aufzusuchen. Während daher das bloß sinnliche Bewußtsein die Dinge nur weist, d. h. bloß in ihrer Unmittelbarkeit zeigt, erfaßt dagegen das Wahrnehmen den Zusammenhang der Dinge, tut dar, daß, wenn diese Umstände vorhanden sind, dieses daraus folgt, und beginnt so, die Dinge als wahr zu erweisen. Dies Erweisen ist indes noch ein mangelhaftes, kein letztes. Denn dasjenige, durch welches hierbei etwas erwiesen werden soll, ist selber ein Vorausgesetztes, folglich des Erweises Bedürftiges, so daß man auf diesem Felde von Voraussetzungen zu Voraussetzungen kommt und in den Progreß ins Unendliche hineingerät. - Auf diesem Standpunkt steht die Erfahrung. Alles muß erfahren werden. Wenn aber von Philosophie die Rede sein soll, so muß man sich von jenem an Voraussetzungen gebunden bleibenden Erweisen des Empirismus zum Beweisen der absoluten Notwendigkeit der Dinge erheben. Schon bei § 415 ist übrigens gesagt worden, daß die Fortbildung des Bewußtseins als eine Veränderung der Bestimmungen seines Objekts erscheint. Mit Bezug auf diesen Punkt kann hier noch erwähnt werden, daß, indem das wahrnehmende Bewußtsein die Einzelheit der Dinge aufhebt, ideell setzt und somit die Äußerlichkeit der Beziehung des Gegenstandes auf das Ich negiert, dieses in sich selber geht, selber an Innerlichkeit gewinnt, daß aber das Bewußtsein dies Insichgehen als in das Objekt fallend betrachtet.
§ 421
Diese Verknüpfung des Einzelnen und Allgemeinen ist Vermischung, weil das Einzelne zum Grunde liegendes Sein und fest gegen das Allgemeine bleibt, auf welches es zugleich bezogen ist. Sie ist daher der vielseitige Widerspruch, - überhaupt der einzelnen Dinge der sinnlichen Apperzeption, die den Grund der allgemeinen Erfahrung ausmachen sollen, und der Allgemeinheit, die vielmehr das Wesen und der Grund sein soll, - der Einzelheit, welche die Selbständigkeit in ihrem konkreten Inhalte genommen ausmacht, und der mannigfaltigen Eigenschaften, die vielmehr frei von diesem negativen Bande und voneinander, selbständige allgemeine Materien sind (s. § 123 ff.) usf. Es fällt hierin eigentlich der Widerspruch des Endlichen durch alle Formen der logischen Sphären, am konkretesten, insofern das Etwas als Objekt bestimmt ist (§ 194 ff.).
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