4. Der Prozeß in seiner Totalität
§ 333
Diese neutralen Körper, wieder in Beziehung zueinander tretend, bilden den vollständig realen chemischen Prozeß, da er zu seinen Seiten solche reale Körper hat. Zu ihrer Vermittlung bedürfen sie des Wassers als des abstrakten Mediums der Neutralität. Aber beide als neutral für sich sind in keiner Differenz gegeneinander. Es tritt hier die Partikularisation der allgemeinen Neutralität und damit ebenso die Besonderung der Differenzen der chemisch-begeisteten Körper gegeneinander ein, die sogenannte Wahlverwandtschaft - Bildung anderer besonderer Neutralitäten durch Trennung vorhandener.
Der wichtigste Schritt zur Vereinfachung der Partikularitäten in den Wahlverwandtschaften ist durch das von Richter und Guyton Morveau160) gefundene Gesetz geschehen, daß neutrale Verbindungen keine Veränderung in Ansehung des Zustandes der Sättigung erleiden, wenn sie durch die Auflösung vermischt werden und die Säuren ihre Basen gegeneinander vertauschen. Es hängt damit die Skala der Quantitäten von Säuren und Alkalien zusammen, nach welcher jede einzelne Säure für ihre Sättigung zu jedem Alkalischen ein besonderes Verhältnis hat; und wenn nun für eine Säure in einem bestimmten Quantum die Reihe der Alkalien nach den Quantitäten, in denen sie dasselbe Quantum jener Säure sättigen, aufgestellt ist, so behalten für jede andere Säure die Alkalien untereinander dasselbe Verhältnis zu deren Sättigung als zur ersten, und nur die quantitative Einheit der Säuren, mit der sie sich mit jener konstanten Reihe verbinden, ist verschieden. Auf gleiche Weise haben die Säuren ein konstantes Verhältnis unter sich gegen jedes verschiedene Kalische. Übrigens ist die Wahlverwandtschaft selbst nur abstrakte Beziehung der Säure auf die Base. Der chemische überhaupt und insbesondere der neutrale Körper ist zugleich konkreter physischer Körper von bestimmter spezifische Schwere, Kohäsion, Temperatur usf. Diese eigentlich physischen Eigenschaften und deren Veränderungen im Prozesse (§ 328) treten in Verhältnis zu den chemische Momenten desselben, erschweren, hindern oder erleichtern, modifizieren deren Wirksamkeit. Berthollet in seinem berühmten Werke Statique chimique161) hat, indem er die Reihen der Verwandtschaft vollkommen anerkennt, die Umstände zusammengestellt und untersucht, welche in die Resultate der chemischen Aktion eine Veränderung bringen. Resultate, die häufig nur nach der einseitigen Bedingung der Wahlverwandtschaft bestimmt werden. Er sagt: "Die Oberflächlichkeit162) , welche die Wissenschaft durch diese Erklärungen erhält, sieht man vornehmlich für Fortschritte an ."
Zusatz. Das unmittelbare Sichintegrieren der Entgegengesetzten, des Kaustischen und der Säure, in ein Neutrales ist kein Prozeß; das Salz ist ein prozeßloses Produkt, wie das Anhängen des Nord- und Südpols eines Magneten oder der elektrische Entladungsfunke. Soll der Prozeß weitergeführt werden, so müssen die Salze, weil sie gleichgültig und unbedürftig sind, wieder äußerlich aneinandergebracht werden. Die Tätigkeit ist nicht in ihnen, sondern wird erst durch zufällige Umstände wieder zur Erscheinung gebracht; das Gleichgültige kann sich eben nur in einem Dritten berühren, das hier wieder das Wasser ist. Die Gestaltung und Kristallisation hat hier vornehmlich ihren Sitz. Der Prozeß ist überhaupt dieser, daß eine Neutralität aufgehoben, aber wieder eine andere Neutralität hervorgebracht wird. Die Neutralität ist also hier im Kampfe mit sich selbst begriffen, indem die Neutralität, welche das Produkt ist, durch die Negation der Neutralität vermittelt wird. Es sind also besondere Neutralitäten von Säuren und Basen in Konflikt miteinander. Die Affinität einer Säure zu einer Basis wird negiert, und die Negation dieser Affinität ist selbst die Beziehung einer Säure zu einer Basis oder ist selbst eine Affinität. Diese Affinität ist ebenso die Affinität der Säure des zweiten Salzes zur Basis des ersten als der Base des zweiten zur Säure des ersten. Diese Affinitäten, als das Negierende der ersten Affinitäten, werden Wahlverwandtschaften genannt, die wieder weiter nichts anderes heißen, als daß, wie beim Magnetismus und der Elektrizität, das Entgegengesetzte - Säure und Kali - sich identisch setzt. Die existierende, erscheinende, tätige Weise ist dieselbe. Eine Säure treibt eine andere aus einem Basischen aus wie der magnetische Nordpol den Nordpol abstößt, aber jeder mit demselben Südpol verwandt bleibt. Aber hier vergleichen sich Säuren an einem Dritten miteinander, und jeder Säure ihr Entgegengesetztes ist mehr dieses Basische als das andere, die Determination geschieht nicht bloß durch die allgemeine Natur des Entgegengesetzten, weil der chemische Prozeß das Reich der Arten ist, die qualitativ tätig gegeneinander sind. Die Hauptsache ist also die Stärke der Verwandtschaft, aber keine Verwandtschaft ist einseitig; so nah ich einem verwandt bin, so nah ist er es mir. Die Säuren und Basen zweier Salze heben ihre Verbindung auf und konstituieren neue Salze, indem die Säure des zweiten Salzes sich lieber mit der Basis des ersten verbindet und dessen Säure austreibt, während diese Säure dasselbe Verhältnis zur Basis des zweiten Salzes hat; d. h. eine Säure verläßt ihre Base, wenn ihr eine andere, näher verwandte angeboten wird. Das Resultat sind dann wieder real Neutrale, das Produkt also der Gattung nach dasselbe als der Anfang, - eine formelle Rückkehr des Neutralen zu sich selbst. Das von Richter gefundene Gesetz der Wahlverwandtschaften, wovon in der Anmerkung die Rede war, ist unbeachtet geblieben, bis Engländer und Franzosen (Berthollet und Wollaston) von Richter gesprochen, seine Arbeiten benutzt und gebraucht und sie dann wichtig gemacht haben. Ebenso wird die Goethesche Farbenlehre in Deutschland nicht eher durchschlagen, als bis ein Franzose oder Engländer sich derselben annimmt oder für sich dieselbe Ansicht ausführt und geltend macht. Dies ist weiter nicht zu beklagen. denn bei uns Deutschen ist es nun einmal immer so, außer wenn schlechtes Zeug auf die Beine gebracht wird, wie Galls Schädellehre163) . Jenes von Richter mit vielen scholastischen Reflexionen auseinandergesetzte Prinzip der Stöchiometrie läßt sich nun am leichtesten durch folgende Vergleichung anschaulich machen. Kaufe ich verschiedene Waren mit Friedrichsd'ors ein, so brauche ich z. B. zu einem gewissen Quantum des ersten Artikels 1 Friedrichsd'or, zu demselben Quantum des zweiten Artikels 2 Friedrichsd'ors usw. Kaufe ich nun mit Silbertalern ein, so brauche ich mehr Teile dieser Münzsorte, nämlich 52/3 Silbertaler statt eines Friedrichsd'ors, 111/3 statt zweier usf. Die Waren behalten dasselbe Verhältnis gegeneinander; was zweimal soviel Wert hat, behält ihn immer, an welchem Gelde es auch gemessen sei. Und die Geldsorten haben ebenso als verschiedene ein bestimmtes Verhältnis zueinander; auf sie geht also, nach dieser ihrer Bestimmtheit gegeneinander, eine gewisse Portion von jeder Ware. Wenn daher der Friedrichsd'or 52/3 mal soviel als der Taler ist und auf eins Taler drei Stücke einer bestimmten Ware gehen, so gehen davon auf den Friedrichsd'or 52/3 × 3 Stücke. - In Ansehung der Oxydationsstufen hat Berzelius dieselben Gesichtspunkte festgehalten und besonders auf ein allgemeines Gesetz hingearbeitet; denn schon dazu braucht ein Stoff mehr oder weniger Oxyd als ein anderer, wie z. B. 100 Teile Zinn als Protoxyd 13,6 Teile Sauerstoff, als weißes Deuteroxyd 20,4, als gelbes Hyperoxyd 27,4 sättigen sollen. Zuerst hat Dalton164) darüber Versuche gemacht, aber seine Bestimmungen in die schlechteste Form einer atomistischen Metaphysik eingehüllt, indem er die ersten Elemente oder die einfache erste Menge als ein Atom bestimmte und dann vom Gewicht und Gewichtsverhältnisse dieser Atome sprach: sie sollen kugelförmig sein, zum Teil mit dichterer oder dünner Wärmestoff-Atmosphäre umgeben; und nun lehrt er, die relativen Gewichte und Durchmesser derselben sowie ihre Anzahl in den zusammengesetzten Körpern zu bestimmen. Berzelius165) wiederum und besonders Schweigger166) macht ein Gebraue von elektrochemischen Verhältnissen. Aber an diesem realen Prozesse können die formellen Momente des Magnetismus und der Elektrizität nicht hervortreten oder, wenn sie es tun, nur beschränkt. Nur wenn der Prozeß nicht vollständig real ist, treten jene abstrakten Formen besonders hervor. So zeigte Davy167) zuerst, daß zwei chemisch entgegenwirkende Materien elektrisch entgegengesetzt seien. Wird Schwefel in einem Gefäße geschmolzen, so tritt zwischen beiden eine elektrische Spannung ein, weil dies kein real chemischer Prozeß ist. Am bestimmtesten tritt, wie wir sahen, die Elektrizität am galvanischen Prozeß hervor, aus demselben Grunde; weshalb sie auch zurücktritt, wo er chemischer wird. Magnetismus aber kann am chemischen Prozeß nicht anders zum Vorschein kommen, als wenn die Differenz sich als räumlich zeigen muß, was vorzüglich wieder bei der galvanischen Form eintritt, die eben nicht die absolute Tätigkeit des chemischen Prozesses ist.
160) Jeremias Benjamin Richter, 1762-1807, Bergassessor bei der Bergwerks- und Hüttenadministration in Berlin Louis Bernard Guyton de Morveau, 1736-1816, Chemiker
161) Claude Louis Berthollet, Essai de statique chimique, 2 Bde., Paris 1803
162) im französischen Original S. 9: "superficie"
163) Franz Joseph Gall, 1758-1828, Arzt und Anatom, Begründer der Phrenologie
164) John Dalton, 1766-1844, Chemiker und Physiker, Begründer der modernen Atomtheorie
165) Jöns Jakob Berzelius, Essai sur la théorie des proportions chimiques et sur l'influence chimique de l'électricité, aus dem Schwedischen von Fresnel, Paris 1819. "Es erhebt sich indessen hier eine Frage, die durch kein analoges Phänomen bei der gewöhnlichen elektrisch-chemischen Entladung gelöst werden kann ... . Sie halten in dieser Verbindung mit einer Kraft zusammen, die allen mechanischen Kräften überlegen ist. Die gewöhnlichen elektrischen Erscheinungen ... geben uns keinen Aufschluß darüber, warum die Verbindung der Körper nach Aufhebung des elektrischen Gegensatzes mit so großer Kraft fortdauert."
166) Johann Salomo Christoph Schweigger, 1779-1857; gab von 1811-28 das Journal für Chemie und Physik (54 Bde.) heraus.
167) Sir Humphry Davy, 1778-1829, Chemiker
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