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G.W.F.Hegel                                                                              hegeleliforp03
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse

 

C. Das Maß

§ 107

Das Maß ist das qualitative Quantum, zunächst als unmittelbares, ein Quantum, an welches ein Dasein oder eine Qualität gebunden ist.

Zusatz.
Das Maß als die Einheit der Qualität und der Quantität ist hiermit zugleich das vollendete Sein.
Wenn wir vom Sein sprechen, so erscheint dasselbe zunächst als das ganz Abstrakte und Bestimmungslose; nun aber ist das Sein wesentlich dies, sich selbst zu bestimmen, und seine vollendete Bestimmtheit erreicht dasselbe im Maß. Man kann das Maß auch als eine Definition des Absoluten betrachten, und es ist demgemäß gesagt worden, Gott sei das Maß aller Dinge.
Diese Anschauung ist es denn auch, welche den Grundton mancher althebräischen Gesänge bildet, in welchen die Verherrlichung Gottes im wesentlichen darauf hinausläuft, daß er es sei, welcher allem seine Grenze gesetzt, dem Meer und dem festen Lande, den Flüssen und den Bergen und ebenso den verschiedenen Arten von Pflanzen und von Tieren.
- Im religiösen Bewußtsein der Griechen finden wir die Göttlichkeit des Maßes in näherer Beziehung auf das Sittliche als Nemesis vorgestellt. In dieser Vorstellung liegt dann überhaupt, daß alles Menschliche - Reichtum, Ehre, Macht und ebenso Freude, Schmerz usw. - sein bestimmtes Maß hat, dessen Überschreitung zum Verderben und zum Untergang führt.
- Was nunmehr weiter das Vorkommen des Maßes in der gegenständlichen Welt anbetrifft, so finden wir zunächst in der Natur solche Existenzen, deren wesentlichen Inhalt das Maß bildet.
Dies ist namentlich der Fall mit dem Sonnensystem, welches wir überhaupt als das Reich der freien Maße zu betrachten haben. Schreiten wir dann weiter vor in der Betrachtung der unorganischen Natur, so tritt hier das Maß insofern gleichsam in den Hintergrund, als hier vielfältig die vorhandenen qualitativen und quantitativen Bestimmungen sich als gleichgültig gegeneinander erweisen.
So ist z. B. die Qualität eines Felsen oder eines Flusses nicht an eine bestimmte Größe gebunden.
Bei näherer Betrachtung finden wir indes, daß auch Gegenstände wie die genannten nicht schlechthin maßlos sind, denn das Wasser in einem Fluß und die einzelnen Bestandteile eines Felsen erweisen sich bei der chemischen Untersuchung wieder als Qualitäten, die durch quantitative Verhältnisse der in denselben enthaltenen Stoffe bedingt sind. Entschiedener in die unmittelbare Anschauung fallend tritt dann aber das Maß wieder in der organischen Natur hervor. Die verschiedenen Gattungen der Pflanzen und Tiere haben sowohl im Ganzen als auch in ihren einzelnen Teilen ein gewisses Maß, wobei noch der Umstand zu bemerken ist, daß die unvollkommeneren, der unorganischen Natur näherstehenden organischen Gebilde sich von den höheren zum Teil durch die größere Unbestimmtheit ihres Maßes unterscheiden. So finden wir z. B. unter den Petrefakten sogenannte Ammonshörner, die nur durch das Mikroskop zu erkennen sind, und andere bis zur Größe eines Wagenrades. Dieselbe Unbestimmtheit des Maßes zeigt sich auch bei manchen Pflanzen, die auf einer niederen Stufe der organischen Ausbildung stehen, wie dies z. B. bei den Farnkräutern der Fall ist.

§ 108

Insofern im Maß Qualität und Quantität nur in unmittelbarer Einheit sind, so tritt ihr Unterschied auf eine ebenso unmittelbare Weise an ihnen hervor. Das spezifische Quantum ist insofern teils bloßes Quantum, und das Dasein in einer Vermehrung und Verminderung fähig, ohne daß das Maß, welches insofern eine Regel ist, dadurch aufgehoben wird, teils aber ist die Veränderung des Quantums auch ein Veränderung der Qualität.

Zusatz. Die im Maß vorhandene Identität der Qualität und der Quantität ist nur erst an sich, aber noch nicht gesetzt. Hierin liegt, daß diese beiden Bestimmungen, deren Einheit das Maß ist, sich auch eine jede für sich geltend machen, dergestalt, daß einerseits die quantitativen Bestimmungen des Daseins verändert werden können, ohne daß dessen Qualität dadurch affiziert wird, daß aber auch andererseits dies gleichgültige Vermehren und Vermindern seine Grenze hat, durch deren Überschreitung die Qualität verändert wird. So ist z. B. der Temperaturgrad des Wassers zunächst gleichgültig in Beziehung auf dessen tropfbare Flüssigkeit, es tritt dann aber beim Vermehren oder Vermindern der Temperatur des tropfbar flüssigen Wassers ein Punkt ein, wo dieser Kohäsionszustand sich qualitativ ändert und das Wasser einerseits in Dampf und andererseits in Eis verwandelt wird. Wenn eine quantitative Veränderung stattfindet, so erscheint dies zunächst als etwas ganz Unbefangenes, allein es steckt noch etwas anderes dahinter, und diese scheinbar unbefangene Veränderung des Quantitativen ist gleichsam eine List, wodurch das Qualitative ergriffen wird. Die hierin liegende Antinomie des Maßes haben bereits die Griechen unter mancherlei Einkleidungen veranschaulicht. So z. B. in der Frage, ob ein Weizenkorn einen Haufen Weizen, oder in jener anderen, ob das Ausreißen eines Haares aus dem Schweif eines Pferdes einen Kahlschweif mache? Wenn man im Hinblick auf die Natur der Quantität als gleichgültiger und äußerlicher Bestimmtheit des Seins vorerst geneigt sein wird, jene Fragen verneinend zu beantworten, so wird man doch demnächst zugeben müssen, daß dieses gleichgültige Vermehren und Vermindern auch seine Grenze hat und daß hierbei endlich ein Punkt erreicht wird, wo durch das fortgesetzte Hinzufügen immer nur eines Weizenkorns ein Haufen Weizen und durch das fortgesetzte Ausziehen immer nur eines Haares ein Kahlschweif entsteht. Ebenso wie mit diesen Beispielen verhält es sich mit jener Erzählung von einem Bauer, welcher die Last seines munter einherschreitenden Esels so lange um ein Lot nach dem anderen vermehrte, bis daß derselbe endlich unter der unerträglich gewordenen Last zusammensank.
Man würde sehr Unrecht tun, wenn man dergleichen bloß für ein müßiges Schulgeschwätz erklären wollte, da es sich dabei in der Tat um Gedanken handelt, mit denen vertraut zu sein auch in praktischer und näher in sittlicher Beziehung von großer Wichtigkeit ist. So findet z. B. in Beziehung auf die Ausgaben, welche wir machen, zunächst ein gewisser Spielraum statt, innerhalb dessen es auf ein Mehr und Weniger nicht ankommt; wird dann aber nach der einen oder nach der andern Seite hin das durch die jedesmaligen individuellen Verhältnisse bestimmte Maß überschritten, so macht sich die qualitative Natur des Maßes (in derselben Weise wie bei dem vorher erwähnten Beispiel der verschiedenen Temperatur des Wassers) geltend, und dasjenige, was soeben noch als gute Wirtschaft zu betrachten war, wird zu Geiz oder zu Verschwendung.
- Dasselbe findet dann auch seine Anwendung auf die Politik, und zwar in der Art, daß die Verfassung eines Staates ebensowohl als unabhängig als auch als abhängig von der Größe seines Gebiets, von der Zahl seiner Bewohner und anderen solchen quantitativen Bestimmungen angesehen werden muß. Betrachten wir z. B. einen Staat mit einem Gebiet von tausend Quadratmeilen und einer Bevölkerung von vier Millionen Einwohnern, so wird man zunächst unbedenklich zuzugeben haben, daß ein paar Quadratmeilen Gebiet oder ein paar Tausend Einwohner mehr oder weniger auf die Verfassung eines solchen Staates keinen wesentlichen Einfluß haben können. Dahingegen ist dann aber auch ebensowenig zu verkennen, daß in der fortgesetzten Vergrößerung oder Verkleinerung eines Staats endlich ein Punkt eintritt, wo, abgesehen von allen anderen Umständen, schon um dieser quantitativen Veränderung willen auch das Qualitative der Verfassung nicht mehr unverändert bleiben kann. Die Verfassung eines kleinen Schweizer Kantons paßt nicht für ein großes Reich, und ebenso unpassend war die Verfassung der römischen Republik in ihrer Übertragung auf kleine deutsche Reichsstädte.

§ 109

Das Maßlose ist zunächst dies Hinausgehen eines Maßes durch seine quantitative Natur über seine Qualitätsbestimmtheit. Da aber das andere quantitative Verhältnis, das Maßlose des ersten, ebensosehr qualitativ ist, so ist das Maßlose gleichfalls ein Maß; welche beiden Übergänge von Qualität in Quantum und von diesem in jene wieder als unendlicher Progreß vorgestellt werden können - als das sich im Maßlosen Aufheben und Wiederherstellen des Maßes.

Zusatz.
Die Quantität ist, wie wir gesehen haben, nicht nur der Veränderung, d. h. der Vermehrung und Verminderung fähig, sondern sie ist überhaupt als solche das Hinausschreiten über sich selbst. Diese ihre Natur bewährt die Quantität dann auch im Maße. Indem nun aber die im Maß vorhandene Quantität ein gewisse Grenze überschreitet, so wird dadurch auch die derselben entsprechende Qualität aufgehoben. Hiermit wird jedoch nicht die Qualität überhaupt, sondern nur diese bestimmte Qualität negiert, deren Stelle sofort wieder durch eine andere Qualität eingenommen wird.
Man kann diesen Prozeß des Maßes, welcher sich abwechselnd als bloße Veränderung der Quantität und dann auch als ein Umschlagen der Quantität in Qualität erweist, unter dem Bilde einer Knotenlinie zur Anschauung bringen. Dergleichen Knotenlinien finden wir zunächst in der Natur unter mancherlei Formen. Der durch Vermehrung und Verminderung bedingten, qualitativ verschiedenen Aggregatzustände des Wassers wurde bereits früher gedacht. In ähnlicher Weise verhält es sich mit den verschiedenen Oxydationsstufen der Metalle. Auch der Unterschied der Töne kann als ein Beispiel des im Prozeß des Maßes stattfindenden Umschlagens des zunächst bloß Quantitativen in qualitative Veränderung betrachtet werden.

§ 110

Was hierin in der Tat geschieht, ist, daß die Unmittelbarkeit, welche noch dem Maße als solchem zukommt, aufgehoben wird; Qualität und Quantität selbst sind an ihm zunächst als unmittelbare, und es ist nur ihre relative Identität. Das Maß zeigt sich aber, in das Maßlose sich aufzuheben, jedoch in diesem, welches dessen Negation, aber selbst Einheit der Quantität und Qualität ist, ebensosehr nur mit sich selbst zusammenzugehen.

§ 111

Das Unendliche, die Affirmation als Negation der Negation, hatte statt der abstrakteren Seiten, des Seins und Nichts, Etwas und eines Anderen usf., nun die Qualität und Quantität zu seinen Seiten.
Diese sind
α) zunächst die Qualität in die Quantität (§ 98) und die Quantität in die Qualität (§ 105) übergegangen und damit beide als Negationen aufgezeigt.
β) Aber in ihrer Einheit (dem Maße) sind sie zunächst unterschieden und die eine nur vermittels der anderen; und γ?) nachdem sich die Unmittelbarkeit dieser Einheit als sich aufhebend erwiesen, so ist diese Einheit nunmehr gesetzt als das, was sie an sich ist, als einfache Beziehung-auf-sich, welche das Sein überhaupt und dessen Formen als aufgehobene in sich enthält.
- Das Sein oder die Unmittelbarkeit, welche durch die Negation ihrer selbst Vermittlung mit sich und Beziehung auf sich selbst ist, somit ebenso Vermittlung, die sich zur Beziehung auf sich, zur Unmittelbarkeit aufhebt, ist das Wesen.

Zusatz.
Der Prozeß des Maßes ist nicht bloß die schlechte Unendlichkeit des unendlichen Progresses in der Gestalt eines perennierenden Umschlagens von Qualität in Quantität und von Quantität in Qualität, sondern zugleich die wahre Unendlichkeit des in seinem Anderen mit sich selbst Zusammengehens. Qualität und Quantität stehen im Maß einander zunächst als Etwas und Anderes gegenüber. Nun aber ist die Qualität an sich Quantität und ebenso ist umgekehrt die Quantität an sich Qualität. Indem somit diese beiden im Prozeß des Maßes ineinander übergehen, so wird eine jede dieser beiden Bestimmungen nur zu dem, was sie an sich schon ist, und wir erhalten jetzt das in seinen Bestimmungen negierte, überhaupt das aufgehobene Sein, welches das Wesen ist. Im Maß war an sich schon das Wesen, und sein Prozeß besteht nur darin, sich als das zu setzen, was es an sich ist.
- Das gewöhnliche Bewußtsein faßt die Dinge als seiende auf und betrachtet dieselben nach Qualität, Quantität und Maß. Diese unmittelbaren Bestimmungen erweisen sich dann aber nicht als feste, sondern als übergehende, und das Wesen ist das Resultat ihrer Dialektik. Im Wesen findet kein Übergehen mehr statt, sondern nur Beziehung. Die Form der Beziehung ist im Sein nur erst unsere Reflexion; im Wesen dagegen ist die Beziehung dessen eigene Bestimmung.
Wenn (in der Sphäre des Seins) das Etwas zu Anderem wird, so ist hiermit das Etwas verschwunden.
Nicht so im Wesen; hier haben wir kein wahrhaft Anderes, sondern nur Verschiedenheit, Beziehung des Einen auf sein Anderes. Das Übergehen des Wesens ist also zugleich kein Übergehen; denn beim Übergehen des Verschiedenen in Verschiedenes verschwindet das Verschiedene nicht, sondern die Verschiedenen bleiben in ihrer Beziehung. Sagen wir z. B. Sein und Nichts, so ist Sein für sich, und ebenso ist Nichts für sich. Ganz anders verhält es sich mit dem Positiven und Negativen. Diese haben zwar die Bestimmung des Seins und des Nichts. Aber das Positive hat für sich keinen Sinn, sondern es ist dasselbe schlechthin auf das Negative bezogen. Ebenso verhält es sich mit dem Negativen. In der Sphäre des Seins ist die Bezogenheit nur an sich; im Wesen dagegen ist dieselbe gesetzt. Dies ist also überhaupt der Unterschied der Formen des Seins und des Wesens. Im Sein ist alles unmittelbar, im Wesen dagegen ist alles relativ. 

 

 

 

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