G.W.F.Hegel - Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
(1830)
Vorrede zur ersten Ausgabe [1817]
Das Bedürfnis, meinen Zuhörern einen Leitfaden zu meinen philosophischen Vorlesungen in die Hände zu geben, ist die nächste Veranlassung, daß ich diese Übersicht des gesamten Umfanges der Philosophie früher ans Licht treten lasse, als mein Gedanke gewesen wäre.
Die Natur eines Grundrisses schließt nicht nur eine erschöpfendere Ausführung der Ideen ihrem Inhalte nach aus, sondern beengt insbesondere auch die Ausführung ihrer systematischen Ableitung, welche das enthalten muß, was man sonst unter dem Beweise verstand und was einer wissenschaftlichen Philosophie unerläßlich ist. Der Titel sollte teils den Umfang eines Ganzen, teils die Absicht anzeigen, das Einzelne dem mündlichen Vortrage vorzubehalten.
Bei einem Grundrisse kommt aber dann mehr bloß eine äußerliche Zweckmäßigkeit der Anordnung und Einrichtung in Betrachtung, wenn es ein schon vorausgesetzter und bekannter Inhalt ist, der in einer absichtlichen Kürze vorgetragen werden soll. Indem gegenwärtige Darstellung nicht in diesem Falle ist, sondern eine neue Bearbeitung der Philosophie nach einer Methode aufstellt, welche noch, wie ich hoffe, als die einzig wahrhafte, mit dem Inhalt identische anerkannt werden wird, so hätte ich es derselben dem Publikum gegenüber für vorteilhafter halten können, wenn mir die Umstände erlaubt hätten, eine ausführlichere Arbeit über die anderen Teile der Philosophie vorangehen zu lassen, dergleichen ich über den ersten Teil des Ganzen, die Logik, dem Publikum übergeben habe. Ich glaube übrigens, obgleich in gegenwärtiger Darstellung die Seite, wonach der Inhalt der Vorstellung und der empirischen Bekanntschaft näherliegt, beschränkt werden mußte, in Ansehung der Übergänge, welche nur eine durch den Begriff zu geschehende Vermittlung sein können, so viel bemerklich gemacht zu haben, daß sich das Methodische des Fortgangs hinreichend sowohl von der nur äußerlichen Ordnung, welche die anderen Wissenschaften aufsuchen, als auch von einer in philosophischen Gegenständen gewöhnlich gewordenen Manier unterscheidet, welche ein Schema voraussetzt und damit die Materien ebenso äußerlich und noch willkürlicher, als die erste Weise tut, parallelisiert und, durch den sonderbarsten Mißverstand, der Notwendigkeit des Begriffs mit Zufälligkeit und Willkür der Verknüpfungen Genüge geleistet haben will.
Dieselbe Willkür sahen wir auch sich des Inhalts der Philosophie bemächtigten, auf Abenteuer des Gedankens ausziehen und dem echtgesinnten und redlichen Streben eine Zeitlang imponieren, sonst aber auch für eine selbst bis zur Verrücktheit gesteigerte Aberwitzigkeit gehalten werden. Statt des Imposanten oder Verrückten ließ der Gehalt eigentlicher und häufiger wohlbekannte Trivialitäten, sowie die Form die bloße Manier eines absichtlichen, methodischen und leicht zu habenden Witzes barocker Verknüpfungen und einer erzwungenen Verschrobenheit, sowie überhaupt hinter der Miene des Ernstes Betrug gegen sich und gegen das Publikum erkennen. Auf der andern Seite sahen wir dagegen die Seichtigkeit den Mangel an Gedanken zu einem sich selbst klugen Skeptizismus und vernunftbescheidenen Kritizismus stempeln und mit der Leerheit an Ideen in gleichem Grade ihren Dünkel und Eitelkeit steigern. - Diese beiden Richtungen des Geistes haben eine geraume Zeit den deutschen Ernst geäfft, dessen tieferes philosophisches Bedürfnis ermüdet und eine Gleichgültigkeit, ja sogar eine solche Verachtung gegen die Wissenschaft der Philosophie zur Folge gehabt, daß nun auch eine sich so nennende Bescheidenheit über das Tiefste der Philosophie mit- und absprechen und demselben die vernünftige Erkenntnis, deren Form man ehemals unter den Beweisen begriff, abzuleugnen sich herausnehmen zu dürfen meint.
Die erste der berührten Erscheinungen kann zum Teil als die jugendliche Lust der neuen Epoche angesehen werden, welche im Reiche der Wissenschaft wie in dem politischen aufgegangen ist. Wenn diese Lust die Morgenröte des verjüngten Geistes mit Taumel begrüßte und ohne tiefere Arbeit gleich an den Genuß der Idee ging und in den Hoffnungen und Aussichten, welche diese darbot, eine Zeitlang schwelgte, so versöhnt sie leichter mit ihren Ausschweifungen, weil ihr ein Kern zugrunde liegt und der oberflächliche Dunst, den sie um denselben ausgegossen, sich von selbst verziehen muß. Die andere Erscheinung aber ist widriger, weil sie die Ermattung und Kraftlosigkeit zu erkennen gibt und sie mit einem die philosophischen Geister aller Jahrhunderte meisternden, sie und am meisten sich selbst mißkennenden Dünkel zu bedecken strebt.
Um so erfreulicher ist aber wahrzunehmen und noch zu erwähnen, wie sich gegen beides das philosophische Interesse und die ernstliche Liebe der höheren Erkenntnis unbefangen und ohne Eitelkeit erhalten hat. Wenn dies Interesse sich mitunter mehr auf die Form eines unmittelbaren Wissens und des Gefühls warf, so beurkundet es dagegen den inneren, weitergehenden Trieb vernünftiger Einsicht, welche allein dem Menschen seine Würde gibt, dadurch am höchsten, daß ihm selbst jener Standpunkt nur als Resultat philosophischen Wissens wird, somit dasjenige von ihm als Bedingung wenigstens anerkannt ist, was es zu verschmähen scheint. - Diesem Interesse am Erkennen der Wahrheit widme ich diesen Versuch, eine Einleitung oder Beitrag zu seiner Zufriedenheit zu liefern; ein solcher Zweck möge ihm eine günstige Aufnahme verschaffen.
Heidelberg, im Mai 1817
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