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Erster Abschnitt: Die Elemente des griechischen Geistes

Griechenland ist die Substanz, welche zugleich individuell ist: das Allgemeine als solches ist überwunden, das Versenktsein in die Natur ist aufgehoben, und so ist denn auch das Massenhafte der geographischen Verhältnisse verschwunden. Das Land besteht aus einem Erdreich, das auf vielfache Weise im Meere zerstreut ist, aus einer Menge von Inseln und einem festen Lande, welches selbst inselartig ist.
Nur durch eine schmale Erdzunge ist der Peloponnes mit demselben verbunden; ganz Griechenland wird durch Buchten vielfach zerklüftet. Alles ist in kleine Partien zerteilt und zugleich in leichter Beziehung und Verbindung durch das Meer. Berge, schmale Ebenen, kleine Täler und Flüsse treffen wir in diesem Lande an; es gibt dort keinen großen Strom und keine einfache Talebene, sondern der Boden ist durch Berge und Flüsse verschieden gestaltet, ohne daß eine einzige großartige Masse hervortritt.
Wir finden nicht diese orientalische physische Macht, nicht einen Strom, wie den Ganges, den Indus usw.,
in deren Ebenen ein einförmiges Geschlecht zu keiner Veränderung eingeladen wird, weil sein Horizont immer nur dieselbe Gestalt zeigt, sondern durchaus jene Verteiltheit und Vielfältigkeit, die der mannigfachen Art griechischer Völkerschaften und der Beweglichkeit des griechischen Geistes vollkommen entspricht.

Dies ist der elementarische Charakter des griechischen Geistes, welcher es schon mit sich bringt,
daß die Bildung von selbständigen Individualitäten ausgeht, von einem Zustand, in dem die Einzelnen auf sich stehen und nicht schon durch das Naturband patriarchalisch von Hause aus vereint sind, sondern sich erst in einem anderen Medium, in Gesetz und geistiger Sitte, zusammentun. Denn das griechische Volk ist vornehmlich erst zu dem, was es war, geworden. Bei der Ursprünglichkeit der nationalen Einheit ist die Zerteilung überhaupt, die Fremdartigkeit in sich selbst, das Hauptmoment, das zu betrachten ist.
Die erste Überwindung derselben macht die erste Periode der griechischen Bildung aus: und nur durch solche Fremdartigkeit und durch solche Überwindung ist der schöne, freie griechische Geist geworden.
Über dieses Prinzip müssen wir ein Bewußtsein haben. Es ist eine oberflächliche Torheit, sich vorzustellen, daß ein schönes und wahrhaft freies Leben so aus der einfachen Entwicklung eines in seiner Blutsverwandtschaft und Freundschaft bleibenden Geschlechts hervorgehen könne.
Selbst die Pflanze, die das nächste Bild solcher ruhigen, in sich nicht entfremdeten Entfaltung abgibt, lebt und wird nur durch die gegensätzliche Tätigkeit von Licht, Luft und Wasser.
Der wahrhafte Gegensatz, den der Geist haben kann, ist geistig; es ist seine Fremdartigkeit in sich selbst, durch welche allein er die Kraft, als Geist zu sein, gewinnt.
Die Geschichte Griechenlands zeigt in ihrem Anfange diese Wanderung und Vermischung von zum Teil einheimischen, zum Teil ganz fremdartigen Stämmen; und gerade Attika, dessen Volk den höchsten Gipfel griechischer Blüte erreichen sollte, war der Zufluchtsort der verschiedensten Stämme und Familien.
Jedes welthistorische Volk, außer den asiatischen Reichen, die außer dem Zusammenhange der Weltgeschichte stehen, hat sich auf diese Weise gebildet. So haben sich die Griechen, wie die Römer, aus einer colluvies, aus einem Zusammenfluß der verschiedensten Nationen entwickelt. Von der Menge von Völkerschaften, welche wir in Griechenland antreffen, ist nicht anzugeben, welche eigentlich die ursprünglich griechischen gewesen und welche aus fremden Ländern und Weltteilen eingewandert seien, denn die Zeit, von der wir hier sprechen, ist überhaupt eine Zeit des Ungeschichtlichen und Trüben. Ein Hauptvolk in Griechenland waren damals die Pelasger; die verwirrten und sich widersprechenden Nachrichten, welche wir von ihnen haben, sind von den Gelehrten auf die mannigfaltigste Weise in Einklang zu bringen versucht worden, da eben eine trübe und dunkle Zeit ein besonderer Gegenstand und Anspornung der Gelehrsamkeit ist. Als früheste Punkte einer angehenden Kultur machen sich Thrakien, das Vaterland des Orpheus, und dann Thessalien, Landschaften, die später mehr oder weniger zurücktreten, bemerklich. Von Phthiotis, dem Vaterlande Achills, geht der gemeinschaftliche Name der Hellenen aus, ein Name, der nach Thukydides' Bemerkung in diesem zusammenfassenden Sinn ebensowenig beim Homer vorkommt als der Name Barbaren, von denen sich die Griechen noch nicht bestimmt unterschieden. Es muß der Spezialgeschichte überlassen bleiben, die einzelnen Stämme und ihre Umwandlungen zu verfolgen. Im allgemeinen ist anzunehmen, daß die Stämme und Individuen leicht ihr Land verließen, wenn eine zu große Menge von Einwohnern dasselbe überfüllte, und daß infolgedessen die Stämme sich im Zustande des Wanderns und der gegenseitigen Beraubung befanden. Noch bis jetzt, sagt der sinnige Thukydides, haben die Ozolischen Lokrer, Ätoler und Akarnanen die alte Lebensart; auch hat sich bei ihnen die Sitte, Waffen zu tragen, aus dem alten Raubwesen erhalten. Von den Atheniensern sagt er, daß sie die ersten waren, welche die Waffen im Frieden ablegten. Bei solchem Zustande wurde kein Ackerbau getrieben; die Einwohner hatten sich nicht nur gegen Räuber zu verteidigen, sondern auch den Kampf mit wilden Tieren zu bestehen (noch zu Herodots Zeit hausten viele Löwen am Nestos und am Acheloos); später wurde besonders zahmes Vieh der Gegenstand der Plünderung, und selbst nachdem der Ackerbau schon allgemeiner geworden war, wurden noch Menschen geraubt und als Sklaven verkauft. Dieser griechische Urzustand wird uns von Thukydides noch weiter ausgemalt.

Griechenland war also in diesem Zustand der Unruhe, der Unsicherheit, der Räuberei, und seine Völkerschaften fortwährend auf der Wanderung.

Das andere Element, auf welchem das Volk der Hellenen lebte, war das Meer. Die Natur ihres Landes brachte sie zu dieser Amphibienexistenz und ließ sie frei auf den Wellen schweben, wie sie sich frei auf dem Lande ausbreiteten, weder gleich den nomadischen Völkerschaften umherschweifend noch wie die Völker der Flußgebiete verdumpfend. Die Seeräubereien, nicht der Handel, machten den Hauptinhalt der Schiffahrt aus, und wie wir aus Homer sehen, galten diese überhaupt noch gar nicht für eine Schande. Dem Minos wird die Unterdrückung der Seeräuberei zugeschrieben und Kreta als das Land gerühmt, wo zuerst die Verhältnisse fest wurden; es trat nämlich daselbst früh der Zustand ein, welchen wir nachher in Sparta wiederfinden, daß eine herrschende Partei war und eine andere, die ihr zu dienen und die Arbeiten zu verrichten gezwungen war.

Wir haben soeben von der Fremdartigkeit als von einem Elemente des griechischen Geistes gesprochen, und es ist bekannt, daß die Anfänge der Bildung mit der Ankunft der Fremden in Griechenland zusammenhängen. Diesen Ursprung des sittlichen Lebens haben die Griechen mit dankbarem Andenken in einem Bewußtsein, das wir mythologisch nennen können, bewahrt: in der Mythologie hat sich die bestimmte Erinnerung der Einführung des Ackerbaues durch Triptolemos, der von der Ceres unterrichtet war, erhalten, sowie die der Stiftung der Ehe usw. Dem Prometheus, dessen Vaterland nach dem Kaukasus hin verlegt wird, ist es zugeschrieben, daß er die Menschen zuerst gelehrt habe, das Feuer zu erzeugen und von demselben Gebrauch zu machen. Die Einführung des Eisens war den Griechen ebenfalls sehr wichtig, und während Homer nur von Erz spricht, nennt Aischylos das Eisen skythisch. Auch die Einführung des Ölbaumes, die Kunst des Spinnens und Webens, die Erschaffung des Pferdes durch Poseidon gehören hierher. 

Geschichtlicher als diese Anfänge ist dann die Ankunft der Fremden; es wird angegeben, wie die verschiedenen Staaten von Fremden gestiftet worden sind. So wird Athen vom Kekrops gegründet, einem Ägypter, dessen Geschichte aber in Dunkel gehüllt ist. Das Geschlecht des Deukalion, des Sohnes des Prometheus, wird mit den unterschiedenen Stämmen in Zusammenhang gebracht. Ferner wird Pelops aus Phrygien, Sohn des Tantalos, erwähnt; dann Danaos aus Ägypten: von ihm stammen Akrisios, Danae und Perseus ab. Pelops soll mit großem Reichtum nach dem Peloponnes gekommen sein und sich dort großes Ansehen und Macht verschafft haben. Danaos siedelte sich in Argos an. Besonders wichtig ist die Ankunft des Kadmos, phönizischen Ursprungs, mit dem die Buchstabenschrift nach Griechenland gekommen sein soll; von ihr sagt Herodot, daß sie phönizisch gewesen sei, und alte, damals noch vorhandene Inschriften werden angeführt, um die Behauptung zu unterstützen. Kadmos soll, der Sage nach, Theben gegründet haben.

Wir sehen also eine Kolonisation von gebildeten Völkern, die den Griechen in der Bildung schon voraus waren; doch kann man diese Kolonisation nicht mit der der Engländer in Nordamerika vergleichen, denn diese haben sich nicht mit den Einwohnern vermischt, sondern dieselben verdrängt, während sich durch die Kolonisten Griechenlands Eingeführtes und Autochthonisches zusammenmischte.
Die Zeit, in welche die Ankunft dieser Kolonisten gesetzt wird, steigt sehr weit hinauf und fällt in das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert vor Chr. Geburt. Kadmos soll Theben gegen das Jahr 1490 gegründet haben, eine Zeit, die mit dem Auszug Moses aus Ägypten (1500 Jahre v. Chr. Geburt) ungefähr zusammenfällt. Auch Amphiktyon wird unter den Stiftern in Hellas genannt: er soll in Thermopylä einen Bund zwischen mehreren kleinen Völkerschaften des eigentlichen Hellas und Thessaliens gestiftet haben, woraus später der große Amphiktyonenbund entstanden ist. 

Diese Fremdlinge haben nun feste Mittelpunkte in Griechenland durch die Errichtung von Burgen und die Stiftung von Königshäusern gebildet. Die Mauerwerke, aus denen die alten Burgen bestanden, wurden in Argolis zyklopische genannt; man hat dergleichen auch noch in neueren Zeiten gefunden, da sie wegen ihrer Festigkeit unzerstörbar sind. Diese Mauern sind zum Teil aus unregelmäßigen Blöcken, deren Zwischenräume mit kleinen Steinen ausgefüllt wurden, zum Teil aus sorgfältig ineinandergefügten Steinmassen konstruiert. Solche Mauern sind die von Tiryns und von Mykenä. Noch gegenwärtig erkennt man das Tor mit dem Löwen von Mykenä nach der Beschreibung des Pausanias. Von Proitos, der in Argos herrschte, wird angegeben, daß er die Zyklopen, welche diese Mauern gebaut, aus Lykien mitgebracht habe. Man nimmt jedoch an, daß sie von den alten Pelasgern errichtet worden seien. Auf den von solchen Mauern geschützten Burgen legten die Fürsten der Heroenzeit meist ihre Wohnungen an. Besonders merkwürdig sind die von ihnen gebauten Schatzhäuser, dergleichen das Schatzhaus des Minyas zu Orchomenos, des Atreus zu Mykenä sind. Diese Burgen wurden nun die Mittelpunkte für kleine Staaten: sie gaben eine größere Sicherheit für den Ackerbau, sie schützten den Verkehr gegen Räuberei.
Dennoch wurden sie, wie Thukydides berichtet, wegen der allgemeinen Seeräuberei nicht unmittelbar am Meer angelegt, an welchem erst späterhin Städte erscheinen. Von jenen Königshäusern ging also die erste Festigkeit eines Zusammenlebens aus. Das Verhältnis der Fürsten zu den Untertanen und zueinander selbst erkennen wir am besten aus dem Homer: es beruhte nicht auf einem gesetzlichen Zustand, sondern auf der Übermacht des Reichtums, des Besitzes, der Bewaffnung, der persönlichen Tapferkeit, auf dem Vorzug der Einsicht und Weisheit und endlich der Abstammung und der Ahnen; denn die Fürsten als Heroen wurden für höheren Geschlechts angesehen. Die Völker waren ihnen untergeben, nicht als durch ein Kastenverhältnis von ihnen unterschieden, noch als unterdrückt, noch im patriarchalischen Verhältnisse, wonach das Oberhaupt nur Vorsteher des gemeinschaftlichen Stammes oder der Familie ist, noch auch in dem ausdrücklichen Bedürfnisse einer gesetzlichen Regierung, sondern nur in dem allgemeinen Bedürfnisse, zusammengehalten zu werden und dem Herrscher, der die Gewohnheit zu befehlen hat, zu gehorchen, ohne Neid und üblen Willen gegen denselben. Der Fürst hat die persönliche Autorität, die er sich zu geben und die er zu behaupten weiß; da aber diese Überlegenheit nur die individuell heroische ist durch das persönliche Verdienst, so hält sie nicht lange aus. So sehen wir im Homer die Freier der Penelope sich in Besitz der Habe des abwesenden Odysseus setzen, ohne dessen Sohn im geringsten zu achten. Achilles erkundigt sich nach seinem Vater, als Odysseus nach der Unterwelt kommt, und meint, da er alt sei, würden sie ihn wohl nicht mehr ehren. Die Sitten sind noch sehr einfach: die Fürsten bereiten sich selbst das Essen zu, und Odysseus zimmert sich selber sein Haus.
In Homers Ilias sehen wir einen König der Könige, einen Chef der großen Nationalunternehmung, aber die anderen Mächtigen umgeben ihn als freier Rat; der Fürst wird geehrt, aber er muß alles so einrichten, daß es den anderen gefalle; er erlaubt sich Gewalttätigkeiten gegen den Achilles, aber dieser zieht sich dafür auch vom Kampfe zurück. Ebenso lose ist das Verhältnis der einzelnen Fürsten zur Menge, unter welcher sich immer einzelne finden, welche Gehör und Achtung in Anspruch nehmen. Die Völker fechten nicht als Söldner des Fürsten in seinen Schlachten, noch als eine stumpfe leibeigene Herde, die nur hineingetrieben wird, noch in ihrem eigenen Interesse, sondern als Begleiter ihres geehrten Vorstandes, als Zeugen seiner Taten und seines Ruhms und als seine Verteidiger, wenn er in Not käme.
Eine vollkommene Ähnlichkeit mit diesen Verhältnissen bietet auch die Götterwelt dar. Zeus ist der Vater der Götter, aber jeder von ihnen hat seinen eigenen Willen, Zeus respektiert sie und diese ihn; er zankt sie wohl bisweilen aus und droht ihnen, und sie lassen ihm dann seinen Willen oder ziehen sich schmollend zurück; aber sie lassen es nicht aufs Äußerste ankommen, und Zeus macht es im ganzen so, dem einen dies, dem andern jenes gewährend, daß sie zufrieden sein können. Es ist also auf der irdischen wie auf der olympischen Welt nur ein lockeres Band der Einheit bestehend; das Königtum ist noch keine Monarchie, denn das Bedürfnis derselben findet sich erst in einer weiteren Gesellschaft.

In diesem Zustande, bei diesen Verhältnissen ist das Auffallende und Große geschehen, daß ganz Griechenland zu einer Nationalunternehmung, nämlich zum Trojanischen Krieg, zusammenkam und daß damit eine weitere Verbindung mit Asien begann, die für die Griechen sehr folgenreich war.
(Der Zug des Jason nach Kolchis, dessen die Dichter ebenfalls Erwähnung tun und der diesem Unternehmen voranging, ist dagegengehalten etwas sehr Vereinzeltes gewesen.) Als Veranlassung dieser gemeinsamen Angelegenheit wird angegeben, daß ein Fürstensohn aus Asien sich der Verletzung des Gastrechts durch Raub der Frau des Gastfreundes schuldig gemacht habe. Agamemnon versammelt die Fürsten Griechenlands durch seine Macht und sein Ansehen; Thukydides schreibt seine Autorität sowohl seiner ungeerbten Herrschaft als auch der Seemacht zu (Homer, Ilias 2, 108), worin er den anderen weit überlegen war; doch scheint es, daß die Vereinigung ohne äußere Gewalt zustande kam und daß das Ganze sich auf einfache persönliche Weise zusammengefunden hatte. Die Hellenen sind dazu gekommen, in einer Gesamtheit aufzutreten, wie nachher nie wieder. Der Erfolg ihrer Anstrengungen war die Eroberung und Zerstörung von Troja, ohne daß sie die Absicht hatten, dasselbe zu einem bleibenden Besitze zu machen.
Ein äußerliches Resultat der Niederlassung in diesen Gegenden ist also nicht erfolgt; ebensowenig als die Vereinigung der Nation zu dieser einzelnen Tat eine dauernde politische Vereinigung geworden ist. Aber der Dichter hat der Vorstellung des griechischen Volks ein ewiges Bild ihrer Jugend und ihres Geistes gegeben, und das Bild dieses schönen menschlichen Heldentums hat dann ihrer ganzen Entwicklung und Bildung vorgeschwebt. So sehen wir auch im Mittelalter die ganze Christenheit sich zu einem Zwecke, der Eroberung des Heiligen Grabes verbinden, aber trotz allen Siegen am Ende ebenso erfolglos.
Die Kreuzzüge sind der Trojanische Krieg der eben erwachenden Christenheit gegen die einfache,
sich selbst gleiche Klarheit des Mohammedanismus.

Die Königshäuser gingen teils durch individuelle Greuel zugrunde, teils erloschen sie nach und nach;
es war keine eigentliche sittliche Verbindung zwischen ihnen und den Völkern vorhanden.
Diese Stellung haben das Volk und die Königshäuser auch in der Tragödie: das Volk ist der Chor, passiv, tatlos, die Heroen verrichten die Taten und tragen die Schuld. Es ist nichts Gemeinschaftliches zwischen ihnen; das Volk hat keine richtende Gewalt, sondern appelliert nur an die Götter. Solche heroische Individualitäten wie die der Fürsten, sind deshalb so ausgezeichnet fähig, Gegenstände der dramatischen Kunst zu sein, da sie selbständig und individuell sich entschließen und nicht durch allgemeine Gesetze, die für jeden Bürger gelten, geleitet werden; ihre Tat und ihr Untergang ist individuell. Das Volk erscheint getrennt von den Königshäusern, und diese gelten als etwas Fremdartiges, als etwas Höheres, das seine Schicksale in sich auskämpft und ausleidet. Die Königswürde, nachdem sie das geleistet, was sie zu leisten hatte, hat eben damit sich überflüssig gemacht. Die Königsgeschlechter zerstören sich in sich oder verkommen, ohne Haß, ohne Kampf von seiten der Völker; man läßt die Familien der Herrscher vielmehr im ruhigen Genuß ihres Vermögens, ein Zeichen, daß die darauf folgende Volksherrschaft nicht als etwas absolut Verschiedenes betrachtet wird. Wie sehr stechen dagegen die Geschichten anderer Zeiten ab!

Dieser Fall der Königshäuser tritt nach dem Trojanischen Kriege ein, und manche Veränderungen kommen nunmehr vor. Der Peloponnes wurde durch die Herakliden erobert, die einen beruhigteren Zustand herbeiführten, der nun nicht mehr durch die unaufhörlichen Wanderungen der Völkerschaften unterbrochen wurde. Die Geschichte tritt wieder mehr ins Dunkel zurück, und wenn die einzelnen Begebenheiten des Trojanischen Krieges uns sehr genau bekannt sind, so sind wir über die wichtigen Angelegenheiten der nächstfolgenden Zeit um mehrere Jahrhunderte ungewiß.
Kein gemeinschaftliches Unternehmen zeichnet dieselben aus, wenn wir nicht als solches ansehen wollen, wovon Thukydides erzählt, daß nämlich am Kriege der Chalkidier in Euböa mit den Eretriern mehrere Völkerschaften teilgenommen haben. Die Städte vegetieren für sich und zeichnen sich höchstens durch den Krieg mit den Nachbarn aus. Doch gedeihen dieselben in dieser Isoliertheit besonders durch den Handel, ein Fortschritt, dem ihr Zerrissensein durch manche Parteikämpfe nicht entgegentritt.
Auf gleiche Weise sehen wir im Mittelalter die Städte Italiens, die sowohl innerhalb als nach außen zu im beständigen Kampfe begriffen waren, zu einem so hohen Flore gelangen.
Das große Gedeihen der griechischen Städte in damaliger Zeit beweisen auch, nach Thukydides, die nach allen Seiten hin verschickten Kolonien: so besetzte Athen mit seinen Kolonien Ionien und eine Menge Inseln; vom Peloponnes aus ließen sich Kolonien in Italien und Sizilien nieder. Kolonien wurden dann wieder relative Mutterstädte, wie z. B. Milet, das viele Städte an der Propontis und am Schwarzen Meere gründete. Diese Ausschickung von Kolonien, besonders im Zeitraum nach dem Trojanischen Kriege bis auf Kyros, ist hier eine eigentümliche Erscheinung.
Man kann sie also erklären. In den einzelnen Städten hatte das Volk die Regierungsgewalt in Händen, indem es die Staatsangelegenheiten in höchster Instanz entschied.
Durch die lange Ruhe nun nahm die Bevölkerung und Entwicklung sehr zu, und ihre nächste Folge war die Anhäufung eines großen Reichtums, mit welchem sich zugleich immer die Erscheinung von großer Not und Armut verbindet. Industrie war in unserem Sinne nicht vorhanden, und die Ländereien waren bald besetzt. Trotzdem ließ sich ein Teil der ärmeren Klasse nicht zur Lebensweise der Not herabdrücken, denn jeder fühlte sich als freier Bürger. Das einzige Auskunftsmittel blieb also die Kolonisation; in einem anderen Lande konnten sich die im Mutterlande Notleidenden einen freien Boden suchen und als freie Bürger durch den Ackerbau bestehen. Die Kolonisation war somit ein Mittel, einigermaßen die Gleichheit unter den Bürgern zu erhalten; aber dieses Mittel ist nur ein Palliativ, indem die ursprüngliche Ungleichheit, welche auf der Verschiedenheit des Vermögens begründet ist, sofort wieder zum Vorschein kommt. Die alten Leidenschaften erstanden mit erneuter Kraft, und der Reichtum wurde bald zur Herrschaft benutzt: so erhoben sich in den Städten Griechenlands Tyrannen.
Thukydides sagt: "Als Griechenland an Reichtum zunahm, sind Tyrannen in den Städten entstanden, und die Griechen haben sich eifriger auf das Seewesen gelegt." Zur Zeit des Kyros gewinnt die Geschichte Griechenlands ihr eigentliches Interesse; wir sehen die Staaten nun in ihrer partikulären Bestimmtheit.
In diese Zeit fällt auch die Ausbildung des unterschiedenen griechischen Geistes; Religion und Staatsverfassung entwickeln sich mit ihm, und diese wichtigen Momente sind es, welche uns jetzt beschäftigen müssen.

Wenn wir den Anfängen griechischer Bildung nachgehen, so bemerken wir zunächst wieder, daß die physische Beschaffenheit ihres Landes nicht eine solche charakteristische Einheit hat, nicht eine solche einförmige Masse bildet, die eine gewaltige Macht über die Bewohner ausübt, sondern sie ist verschiedenartig, und es fehlt ihr an entscheidendem Einfluß. Damit ist auch die massenhafte Einheit von einem Familienzusammenhalt und Nationalverbindung nicht vorhanden, sondern gegen die zerstückelte Natur und ihre Mächte sind die Menschen mehr auf sich selbst und auf die Extension ihrer geringen Kräfte angewiesen. Wir sehen so die Griechen geteilt und abgeschnitten, auf den inneren Geist und den persönlichen Mut zurückgedrängt, dabei aufs mannigfaltigste angeregt und scheu nach allen Seiten, völlig unstet und zerstreut gegen die Natur, von den Zufällen derselben abhängig und besorgt nach außen hinhorchend; aber ebenso andererseits dies Äußere geistig vernehmend und sich aneignend und mutig und selbstkräftig gegen dasselbe. Dies sind die einfachen Elemente ihrer Bildung und ihrer Religion.
Gehen wir ihren mythologischen Vorstellungen nach, so liegen denselben Naturgegenstände zugrunde,
aber nicht in ihrer Masse, sondern in ihrer Vereinzelung. Die Diana zu Ephesus (das ist die Natur, als die allgemeine Mutter), die Kybele und Astarte in Syrien, dergleichen allgemeine Vorstellungen sind asiatisch geblieben und nicht nach Griechenland herübergekommen.
Denn die Griechen lauschen nur auf die Naturgegenstände und ahnen sie mit der innerlichen Frage nach ihrer Bedeutung. Wie Aristoteles sagt, daß die Philosophie von der Verwunderung ausgehe, so geht auch die griechische Naturanschauung von dieser Verwunderung aus. Damit ist nicht gemeint, daß der Geist einem Außerordentlichen begegne, das er mit dem Gewöhnlichen vergleicht; denn die Verstandesansicht von einem regelmäßigen Naturlauf und die vergleichende Reflexion damit ist noch nicht vorhanden; sondern der aufgeregte griechische Geist verwundert sich vielmehr über das Natürliche der Natur; er verhält sich nicht stumpf zu ihr als zu einem Gegebenen, sondern als zu einem dem Geiste zunächst Fremden, zu welchem er jedoch die ahnende Zuversicht und den Glauben hat, als trage es etwas in sich, das ihm freundlich sei, zu dem er sich positiv zu verhalten vermöge. Diese Verwunderung und dieses Ahnen sind hier die Grundkategorien; doch blieben die Hellenen bei diesen Weisen nicht stehen, sondern stellten das Innere, nach welchem das Ahnen fragt, zu bestimmter Vorstellung, als Gegenstand des Bewußtseins heraus.
Das Natürliche gilt als durch den Geist hindurchgehend, der es vermittelt, nicht unmittelbar; der Mensch hat  das Natürliche nur als anregend, und nur das, was er aus ihm Geistiges gemacht hat, kann ihm gelten.
Dieser geistige Anfang ist denn auch nicht bloß als eine Erklärung zu fassen, die wir nur machen, sondern er ist in einer Menge griechischer Vorstellungen selbst vorhanden. Das ahnungsvolle, lauschende, auf die Bedeutung begierige Verhalten wird uns im Gesamtbilde des Pan vorgestellt.
Pan ist in Griechenland nicht das objektive Ganze, sondern das Unbestimmte, das zugleich mit dem Momente des Subjektiven verbunden ist: er ist der allgemeine Schauer in der Stille der Wälder; daher ist er besonders in dem waldreichen Arkadien verehrt worden (ein panischer Schreck ist der gewöhnliche Ausdruck für einen grundlosen Schreck). Pan, dieser Schauererweckende, wird dann als Flötenspieler vorgeführt: es bleibt nicht bloß bei der inneren Ahnung, sondern Pan läßt sich auf der siebenrohrigen Pfeife vernehmen.
In diesem Angegebenen haben wir einerseits das Unbestimmte, das sich aber vernehmen läßt, und andererseits ist das, was vernommen wird, eigenes subjektives Einbilden und Erklären des Vernehmenden. Ebenso horchten die Griechen auf das Gemurmel der Quellen und fragten, was das zu bedeuten habe;
die Bedeutung aber ist nicht die objektive Sinnigkeit der Quelle, sondern die subjektive des Subjekts selbst, welches dann weiter die Najade zur Muse erhebt. Die Najaden oder Quellen sind der äußerliche Anfang der Musen. Doch der Musen unsterbliche Gesänge sind nicht das, was man hört, wenn man die Quellen murmeln hört, sondern sie sind die Produktionen des sinnig horchenden Geistes, der in seinem Hinauslauschen in sich selbst produziert. Die Auslegung und Erklärung der Natur und der natürlichen Veränderungen, das Nachweisen des Sinnes und der Bedeutung darin, das ist das Tun des subjektiven Geistes, was die Griechen mit dem Namen μαντεία belegten. Wir können diese überhaupt als die Art der Bezüglichkeit des Menschen auf die Natur fassen. Zur μαaντtεeίαa gehört der Stoff und der Erklärer, welcher das Sinnvolle herausbringt. Platon spricht davon in Beziehung auf die Träume und den Wahnsinn, in den der Mensch in der Krankheit verfällt; es bedürfe eines Auslegers, μάντις, um diese Träume und diesen Wahnsinn zu erklären. Die Natur hat dem Griechen auf seine Fragen geantwortet: das ist in dem Sinne wahr, daß der Mensch aus seinem Geiste die Fragen der Natur beantwortet hat.
Die Anschauung wird dadurch rein poetisch, denn der Geist macht darin den Sinn, den das natürliche Gebilde ausdrückt. Überall verlangen die Griechen nach einer Auslegung und Deutung des Natürlichen. Homer erzählt im letzten Buche der Odyssee, daß, als die Griechen um den Achill ganz in Trauer versenkt waren, ein großes Tosen über das Meer her entstanden sei; die Griechen seien schon im Begriff gewesen, auseinander zu fliehen, da stand der erfahrene Nestor auf und erklärte ihnen diese Erscheinung. Die Thetis, sagte er, komme mit ihren Nymphen, um den Tod ihres Sohnes zu beklagen. Als eine Pest im Lager der Griechen ausbrach, gab der Priester Kalchas ihnen die Auslegung: Apoll sei erzürnt, daß man seinem Priester Chryses die Tochter für das Lösegeld nicht zurückgegeben habe.
Das Orakel hatte ursprünglich auch ganz diese Form der Auslegung. Das älteste Orakel war zu Dodona
(in der Gegend des heutigen Janina). Herodot sagt, die ersten Priesterinnen des Tempels daselbst seien aus Ägypten gewesen, und doch wird dieser Tempel als ein altgriechischer angegeben. Das Gesäusel der Blätter von den heiligen Eichen war dort die Weissagung. Es waren daselbst auch metallene Becken aufgehängt.
Die Töne der zusammenschlagenden Becken waren aber ganz unbestimmt und hatten keinen objektiven Sinn, sondern der Sinn, die Bedeutung kam erst durch die auffassenden Menschen hinein.
So gaben auch die delphischen Priesterinnen, bewußtlos, besinnungslos, im Taumel der Begeisterung
(μανία) unvernehmliche Töne von sich, und erst der μάντtις legte eine bestimmte Bedeutung hinein. In der Höhle des Trophonios hörte man das Geräusch von unterirdischen Gewässern, es stellten sich Gesichte dar; dies Unbestimmte gewann aber auch erst eine Bedeutung durch den auslegenden auffassenden Geist. Es ist noch zu bemerken, daß die Anregungen des Geistes zunächst äußerliche natürliche Regsamkeiten sind, dann aber ebenso innere Veränderungen, die im Menschen selbst vorgehen, wie die Träume oder der Wahnsinn der delphischen Priesterin, welche durch den μάντις erst sinnvoll ausgelegt werden.
Im Anfang der Ilias braust Achill gegen den Agamemnon auf und ist im Begriff, sein Schwert zu ziehen, aber schnell hemmt er die Bewegung seines Armes und faßt sich im Zorn, indem er sein Verhältnis zu Agamemnon bedenkt. Der Dichter legt dieses aus, indem er sagt: das sei die Pallas Athene (die Weisheit, die Besinnung) gewesen, die ihn aufgehalten habe. Als Odysseus bei den Phäaken seinen Diskus weiter als die anderen geworfen hatte und einer der Phäaken sich ihm freundlich gesinnt gezeigt, so erkennt der Dichter in ihm die Pallas Athene. Diese Bedeutung ist so das Innere, der Sinn, das Wahrhafte, was gewußt wird, und die Dichter sind auf diese Weise die Lehrer der Griechen gewesen, vor allem aber war es Homer.
Die μαντεία überhaupt ist Poesie, nicht willkürliches Phantasieren, sondern eine Phantasie, die das Geistige in das Natürliche hineinlegt und sinnvolles Wissen ist.
Der griechische Geist ist daher im ganzen ohne Aberglauben, indem er das Sinnliche in Sinniges verwandelt, so daß die Bestimmungen aus dem Geiste herkommen; obgleich der Aberglaube von einer andern Seite wieder hineinkommt, wie bemerkt werden wird, wenn Bestimmungen für das Dafürhalten und Handeln aus einer andern Quelle als aus dem Geistigen geschöpft werden.

Die Anregungen des griechischen Geistes sind aber nicht bloß auf äußerliche und innerliche zu beschränken, sondern das Traditionelle aus der Fremde, die schon gegebene Bildung, Götter und Gottesdienste sind mit hierher zu rechnen. Es ist schon lange eine große Streitfrage gewesen, ob die Künste und die Religion der Griechen sich selbständig entwickelt haben oder durch Anregung von außen.
Wenn der einseitige Verstand diesen Streit führt, so ist er unauflöslich; denn es ist ebenso geschichtlich, daß die Griechen aus Indien, Syrien, Ägypten Vorstellungen herüberbekommen haben, wie daß die griechischen Vorstellungen eigentümlich und jene anderen fremd sind. Herodot sagt ebenso [II, 53]: "Homer und Hesiod haben den Griechen ihr Göttergeschlecht gemacht und den Göttern die Beinamen gegeben" - ein großer Ausspruch, mit dem sich besonders Creuzer *) viel zu tun gemacht hat -, als er andererseits wieder sagt, Griechenland habe die Namen seiner Götter aus Ägypten bekommen und die Griechen hätten in Dodona angefragt, ob sie diese Namen annehmen sollten. Dieses scheint sich zu widersprechen, ist aber dennoch ganz im Einklange, denn aus dem Empfangenen haben die Griechen das Geistige bereitet. Das Natürliche, das von den Menschen erklärt wird, das Innere, Wesentliche desselben ist der Anfang des Göttlichen überhaupt. Ebenso wie in der Kunst die Griechen technische Geschicklichkeiten besonders von den Ägyptern herbekommen haben mögen, ebenso konnte ihnen auch der Anfang ihrer Religion von außen her kommen, aber durch ihren selbständigen Geist haben sie das eine wie das andere umgebildet.

Spuren solcher fremden Anfänge der Religion kann man überall entdecken (Creuzer in seiner Symbolik geht besonders darauf aus). Die Liebschaften des Zeus erscheinen zwar als etwas Einzelnes, Äußerliches, Zufälliges, aber es läßt sich nachweisen, daß fremdartige theogonische Vorstellungen dabei zugrunde liegen. Herkules ist bei den Hellenen dies geistig Menschliche, das sich durch eigene Tatkraft, durch die zwölf Arbeiten den Olymp erringt; die fremde zugrunde liegende Idee ist aber die Sonne, welche die Wanderung durch die zwölf Zeichen des Tierkreises vollbringt. Die Mysterien waren nur solche alten Anfänge und enthielten sicherlich keine größere Weisheit, als schon im Bewußtsein der Griechen lag. Alle Athener waren in die Mysterien eingeweiht, und nur Sokrates ließ sich nicht initiieren, weil er wohl wußte, daß Wissenschaft und Kunst nicht aus den Mysterien hervorgehen und niemals im Geheimnis die Weisheit liegt. Die wahre Wissenschaft ist vielmehr auf dem offenen Felde des Bewußtseins.

Wollen wir nun das, was der griechische Geist ist, zusammenfassen, so macht dies die Grundbestimmung aus, daß die Freiheit des Geistes bedingt und in wesentlicher Beziehung auf eine Naturerregung ist.
Die griechische Freiheit ist durch anderes erregt und dadurch frei, daß sie die Anregung aus sich verändert und produziert. Diese Bestimmung ist die Mitte zwischen der Selbstlosigkeit des Menschen
(wie wir sie im asiatischen Prinzip erblicken, wo das Geistige und Göttliche nur auf natürliche Weise besteht) und der unendlichen Subjektivität als reiner Gewißheit ihrer selbst, dem Gedanken, daß das Ich der Boden für alles sei, was gelten soll. Der griechische Geist als Mitte geht von der Natur aus und verkehrt sie zum Gesetztsein seiner aus sich; die Geistigkeit ist daher noch nicht absolut frei und noch nicht vollkommen aus sich selbst, Anregung ihrer selbst. Von Ahnung und Verwunderung geht der griechische Geist aus und geht dann weiter zum Setzen der Bedeutung fort. Auch am Subjekte selbst wird diese Einheit hervorgebracht. Am Menschen ist die natürliche Seite das Herz, die Neigung, die Leidenschaft, die Temperamente; diese wird nun ausgebildet zur freien Individualität, so daß der Charakter nicht im Verhältnis zu den allgemeinen sittlichen Mächten, als Pflichten, steht, sondern daß das Sittliche als eigentümliches Sein und Wollen des Sinnes und der besonderen Subjektivität ist.
Dies macht eben den griechischen Charakter zur schönen Individualität, welche durch den Geist hervorgebracht ist, indem er das Natürliche zu seinem Ausdruck umbildet. Die Tätigkeit des Geistes hat hier noch nicht an ihm selbst das Material und das Organ der Äußerung, sondern sie bedarf der natürlichen Anregung und des natürlichen Stoffes; sie ist nicht freie, sich selbst bestimmende Geistigkeit, sondern zur Geistigkeit gebildete Natürlichkeit - geistige Individualität. Der griechische Geist ist der plastische Künstler, welcher den Stein zum Kunstwerke bildet. Bei diesem Bilden bleibt der Stein nicht bloß Stein und die Form nur äußerlich an ihn gebracht, sondern er wird auch gegen seine Natur zum Ausdruck des Geistigen gemacht und so umgebildet. Umgekehrt bedarf der Künstler für seine geistigen Konzeptionen des Steines, der Farben, der sinnlichen Formen zum Ausdruck seiner Idee; ohne solches Element kann er selbst sowohl der Idee nicht bewußt werden als auch sie anderen nicht gegenständlich machen, denn sie kann ihm nicht im Denken Gegenstand werden.
- Auch der ägyptische Geist war dieser Arbeiter im Stoff, aber das Natürliche war dem Geistigen noch nicht unterworfen; es blieb beim Ringen und Kämpfen mit ihm; das Natürliche blieb noch für sich und eine Seite des Gebildes, wie im Leibe der Sphinx. In der griechischen Schönheit ist das Sinnliche nur Zeichen, Ausdruck, Hülle, worin der Geist sich manifestiert.

Es muß noch hinzugefügt werden, daß, indem der griechische Geist dieser umbildende Bildner ist, er sich in seinen Bildungen frei weiß; denn er ist ihr Schöpfer, und sie sind sogenanntes Menschenwerk. Sie sind aber nicht nur dies, sondern die ewige Wahrheit und die Mächte des Geistes an und für sich, und ebenso vom Menschen geschaffen wie nicht geschaffen. Er hat Achtung und Verehrung vor diesen Anschauungen und Bildern, vor diesem Zeus zu Olympia und dieser Pallas auf der Burg, ebenso vor diesen Gesetzen des Staates und der Sitte; aber er, der Mensch, ist der Mutterleib, der sie konzipiert, er die Brust, die sie gesäugt, er das Geistige, das sie groß und rein gezogen hat. So ist er heiter in ihnen und nicht nur an sich frei, sondern mit dem Bewußtsein seiner Freiheit; so ist die Ehre des Menschlichen verschlungen in die Ehre des Göttlichen. Die Menschen ehren das Göttliche an und für sich, aber zugleich als ihre Tat, ihr Erzeugnis und ihr Dasein: so erhält das Göttliche seine Ehre vermittels der Ehre des Menschlichen und das Menschliche vermittels der Ehre des Göttlichen. 

So bestimmt ist es die schöne Individualität, welche den Mittelpunkt des griechischen Charakters ausmacht. Es sind nun die besonderen Strahlen, in denen sich dieser Begriff realisiert, näher zu betrachten. Alle bilden Kunstwerke; wir können sie als ein dreifaches Gebilde fassen: als das subjektive Kunstwerk, d. h. als die Bildung des Menschen selbst; als das objektive Kunstwerk, d. h. als die Gestaltung der Götterwelt; endlich als das politische Kunstwerk, die Weise der Verfassung und der Individuen in ihr.

*) Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, 4 Bde., 1810-12

 

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